Liebeserklärung ans gedruckte Wort
Kennste den? Kommt ‘ne Echse in die Großstadt…
Hildegunst von Mythenmetz… hach, allein der Name klingt wie pure Poesie... Also: Hildegunst von Mythenmetz ist ein ambitionierter Jung-Dichter, der nach dem Verlangen strebt, eines Tages die lauschenden Ohren der frohlockenden Öffentlichkeit mit seiner Kunst zu begeistern und seine Worte bleibend in deren Gedanken zu verankern. Auf der hochgewachsenen Lindwurmfeste – einem gigantischen Felsen in Westzamonien – lebt der Jüngling bei seinem Dichtpaten Danzelot von Silbendrechsler und strebt wie alle dort geborenen Lindwürmer nach der perfekten Dichtkunst. Ja, ihr habt übrigens richtig gelesen, oh meine geliebten Freunde: Bei Hildegunst handelt es sich nicht um einen edlen Jungspund von adeligem Geblüt, sondern um einen echsenhaften, Sauriern nicht unähnlichen… Lindwurm. Von Danzelot von Silbendrechsler lernte sein Dichtzögling bereits in jungen Jahren das Lesen und Schreiben und er war es auch, der die angeborene Liebe zur Literatur in die richtigen Bahnen lenkte. Bahnen, deren verschlungene Wege den Dichter in Ausbildung noch lange nicht am Ziel seiner lyrischen Träume ankommen lassen werden…
Auf dem Sterbebett vermacht der dahinscheidende Danzelot seinem Schüler… seinem Sohn… ein kostbares Manuskript. Ein Manuskript, dessen geschriebene Worte an Schönheit alles übertreffen sollen, was das lindwurmsche Auge zu sehen imstande ist. Worte, die die Perfektion aller Dichtkunst darstellen und sich in unumstürzlicher Harmonie aneinanderreihen, um ein vollkommenes Ganzes zu ergeben.
Nachdem Hildegunst von Mythenmetz die Asche seines Dichtvaters hoch oben, vom höchsten Punkt der Lindwurmfeste, in alle Winde verstreut hat, macht er sich auf die Suche nach diesem angeblichen Meisterwerk und entdeckt es versteckt in Danzelots Erstausgabe von „Ritter Hempel“ – ein Standardwerk der Lindwurm-Literatur, welches aufgrund seines ausschweifenden ersten Kapitels von den meisten Zamoniern als stinklangweilig abgetan wird. Als Hildegunst das Manuskript in Händen hält, lassen sich seine glasigen Augen nicht mehr vom Pergament trennen. Sein Dichtpate hatte mit seinen blumigen Ausschweifungen und Superlativen nicht übertrieben. Was er in Händen hält, ist die Vollkommenheit… in purer Perfektion. Geschriebenes Gold in reinster Form, dessen Schönheit ihn zu Tränen rührt. Mit Beenden des letzten Satzes steht für den jungen Lindwurm fest, dass er den Verfasser dieser einzigartigen Zeilen ausfindig machen muss… koste es, was es wolle. Er, dieser Meister der Worte, soll seine Ausbildung zum Dichter vollenden.
Euphorisiert von den Zeilen des unbekannten Genies macht Hildegunst sich auf nach Buchhaim. Jene Stadt, die die gedruckte Letter-Kunst in allen erdenklichen Formen zelebriert und in der sich alles um Bücher, Bücher und ja… auch Bücher dreht. Unzählige Verlage und Druckereien tummeln sich an diesem Ort, der in seiner Darstellung an die mittelalterliche Architektur erinnert, die unser Auge auch heute noch in zahlreichen europäischen Metropolen bewundern kann. Marktplätze mit Händlern, die teilweise Bücher zu Spottpreisen an die lesende Bevölkerung bringen, Antiquariate, die Tür an Tür zum Stöbern und Verweilen einladen und Buchhandlungen, welche die zahlreichen Neuveröffentlichungen bis unter die Decke stapeln… all dies lässt Buchhaim zum prunkvollen, literarischen Paradies für jeden Büchernarr werden. Ein buchstäblicher Traum aus Papier und Druckerschwärze, oh meine geliebten Freunde.
Doch nicht nur die Oberfläche von Buchhaim lädt zum Staunen ein, nein… denn unter der Stadt befindet sich ein labyrinthartiges Tunnelsystem, das noch einmal einen ganz neuen Kosmos offenbart. Unzählige Bücher warten in den Katakomben und vergessenen, unterirdischen Bibliotheken auf ihre Entdeckung und Wiederentdeckung. Bücherjäger, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese kostbaren Druckerzeugnisse zu bergen, begeben sich in größte Gefahr, denn in der Unterwelt lauern monströse Kreaturen und die Gänge sind mit unzähligen Fallen gespickt, die das Bergen der literarischen Schätze erschweren sollen. Besonders erstrebenswert – und somit auch dementsprechend schwer bewacht – sind für die abenteuerlustigen Jäger die Bücher der „Goldenen Liste“. Ein dort enthaltenes Werk kann unermesslichen Reichtum für seinen Finder bedeuten. Obwohl einige Titel bei einem großen Brand in Rauch aufgegangen sein sollen, zieht die Neugier nach Schätzen – wie beispielsweise „Das Handbuch der gefährlichen Gesten“, „Das Blutige Buch“ oder „Die Zwölftausend Regeln“ – noch immer gierige Abenteurer in die verwinkelten Gänge unter der Stadt. Einer Gefahr, der sich unser junger Lindwurm gewiss nicht freiwillig aussetzen würde, will dieser doch lediglich mehr über das mysteriöse Manuskript herausfinden, dessen vollkommene Zeilen ihm sein dahingeschiedener Dichtpate hinterlassen hat.
Hildegunst von Mythenmetz‘ Weg führt ihn zum Schriftgelehrten und Antiquar Phistomefel Smeik, einer Haifischmade, deren überschaubares Geschäft sich in der Schwarzmanngasse befindet. Dort, wo einst das Zentrum von Buchhaim war, bevor das große Feuer wütete. Nach einem prüfenden Blick auf das Manuskript bietet Smeik bereitwillig seine Hilfe an und der anfänglich entzückte Hildegunst sieht sich einen Schritt näher am erhofften Ziel, alsbald seine Lehre beim Urheber fortzuführen. Einen Schritt soll der Lindwurm unumstritten machen… jedoch nicht in Richtung seines ersehnten Wunsches. Erhoffter Freudentaumel muss ungeahntem Schrecken weichen, denn von Mythenmetz sieht sich – durch einen Hinterhalt des intriganten Phistomefel Smeik, der seine ganz eigenen Ziele verfolgt - bald mit mysteriösen Kreaturen und skrupellosen Bücherjägern konfrontiert. Doch die Legenden über die buchhaimsche Unterwelt beherbergen noch weitere Gefahren… den unbarmherzigen und unheimlichen Schattenkönig, der grausam und im Verborgenen über das Tunnelsystem herrscht.
Buchstabensuppe auf Sterne-Niveau
Zugegeben, diese Graphic Novel-Adaption ist mein erster Kontakt mit dem Kontinent Zamonien, den der Autor Walter Moers wie selbstverständlich aus dem Hut zaubert und damit seit Jahren unzählige Leser begeistert, die sich gerne in die von ihm erdachte, eindrucksvolle Fantasie-Welt entführen lassen. Die Liebe und Treue seiner Anhänger kann ich – nach dem Lesen der Graphic Novel… besser gesagt „Zamonic Novel“, wie Moers das Projekt selber und während des Entstehungsprozesses auch intern bezeichnete – auch vollends nachvollziehen, da auch Nicht-Kenner der Roman-Vorlage nicht auf weiter Flur alleingelassen werden. Ganz im Gegenteil, denn Moers nimmt den jungfräulichen Zamonien-Besucher behutsam an die Hand und klärt nicht nur durch das umfangreiche Glossar über die Charaktere und Örtlichkeiten seiner lebhaften Welt auf. Sein liebenswertes Schriftsteller-Alter-Ego – Hildegunst von Mythenmetz – dient als Führer durch Zamonien und macht uns so selbstverständlich mit den Gepflogenheiten eines neuartigen Kosmos vertraut, dass es scheint, als würden wir diesen schon ewig kennen… und wären nur kurz weg gewesen. Den clever durchdachten Ideenreichtum, den Walter Moers hier an den Tag legt, ist bemerkenswert und sprüht nur so vor Charme. Besser kann man die Liebe zum gedruckten Wort nicht ausdrücken.
Der öffentlichkeitsscheue Schriftsteller, Comic-Zeichner und Illustrator Walter Moers, der trotz seines Erfolges das Rampenlicht meidet und Interviews bevorzugt schriftlich gibt, schuf im bisherigen Verlauf seiner Karriere beliebte Figuren wie „Das kleine Arschloch“, „den alten Sack“ und „Adolf, die Nazi-Sau“… wobei diese eher einer erwachseneren Leserschaft bekannt sein dürften. Kindgerechter ging es bei dem ebenfalls von ihm erdachten „Käpt’n Blaubär“ zu, der 1988 das Licht der Welt erblickte und sein junges Publikum mit „Käpt’n Blaubärs Seemannsgarn“ und in der „Sendung mit der Maus“ begeisterte.
Willkommen in Zamonien
Ihm widmete Moers auch die fiktive Biografie des blauen Seebären mit der blühenden Fantasie, welche als „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“ (1999) auch den ersten Auftritt des Kontinents Zamonien markierte. In der Märchenparodie „Ensel und Krete“ (2000) trat Hildegunst von Mythenmetz erstmals als angeblicher Verfasser der Geschichte auf, wobei Walter Moers vorgab, nur als Übersetzer zu fungieren. Der dritte Zamonien-Roman handelte dann von einem jungen Wolpertinger, der in „Rumo & Die Wunder im Dunkeln“ (2003) seine Abenteuer bestritt. 2004 folgte dann mit „Die Stadt der Träumenden Bücher“ jenes Werk, das Walter Moers in jahrelanger Arbeit zerlegte und in Skizzen wieder zusammensetzte, um anschließend eindrucksvoll vom Künstler Florian Biege in wunderschöne, gemäldeartige Bilder verwandelt zu werden. Der erste Band der zweiteiligen Geschichte überzeugt auf jeder Seite und in jedem Panel. Biege haucht der zweidimensionalen Roman-Welt mit übersprudelnder Fantasie und mit satten, warmen Farben Leben ein. Leben, dass sich trotz der Vielzahl an unterschiedlichsten Wesen und fantastischer Landschaften natürlich und greifbar anfühlt. Man kann sich förmlich in die unwirklich vertraute Welt von Zamonien fallen lassen, ohne die Sorge, darin verloren zu gehen. Die computergestützte Kolorierung verwöhnt das in anderen Genre-Vertretern oftmals übersättigte Auge des Lesers und kann in diesem Fall definitiv als Volltreffer betrachtet werden.
Walter Moers beschrieb die einige Jahre umfassende Arbeit an „Die Stadt der Träumenden Bücher“ einst als eines der sowohl national, als auch international ambitioniertesten Projekte, wenn es darum geht, einen Roman als Graphic Novel, Verzeihung… „Zamonic Novel“ zu adaptieren. Ein erneutes Comic-Großprojekt dieses Kalibers schloss der Autor übrigens aus.
Der Vollständigkeit halber seien auch noch die weiteren Zamonien-Romane erwähnt. Den fünften Ausflug auf den fantastischen Kontinent stellte 2007 „Der Schrecksenmeister“ dar und handelt von dem kleinen „Krätzchen“ Echo, das einen makabren Pakt mit dem namensgebenden Antagonisten eingeht. 2011 folgte mit „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ die Fortsetzung zum vierten Zamonien-Roman. Die aktuellste Geschichte ist „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“, welche 2017 veröffentlicht wurde. Hier bekommt die schlafloseste Prinzessin von ganz Zamonien, Prinzessin Dylia, nächtlichen Besuch von einem Wesen namens Havarius Opal. Dieser hat vor, sie in den Wahnsinn zu treiben, nimmt sie davor aber mit auf eine abenteuerliche Reise durch die Welt des Denkens und Träumens.
Eine rosig-zamonische Zukunft
Ähnlich wie Hildegunst von Mythenmetz, als ihn die vollkommene Schönheit des Manuskripts aus dem Nachlass seines Dichtpaten sprachlos staunen ließ, erging es auch mir, als ich das Buch zuklappte und begann, die gewonnenen Eindrücke zu verarbeiten. Ich kratze zwar noch an Zamoniens Oberfläche, bin jedoch überzeugt, bald noch tiefer in die Materie einzutauchen…
Der Knaus Verlag bietet dieser „Zamonic Novel“ die gebührende Aufwartung und fasst Walter Moers‘ Fantasy-Epos als gebundene Ausgabe in zwei Hochglanz-Buchdeckel. Das bereits angesprochene Glossar umfasst ausführliche Beschreibungen und erklärungsbedürftige Begriffe rund um den zamonischen Kontinent. Reich bebildert und alphabetisch sortiert. Als besonderes Gimmick lässt sich die Darstellung einer bestimmten Örtlichkeit mehrfach ausklappen, um in voller Gänze bestaunt werden zu können. Der abschließende zweite Teil „Die Katakomben“ erschien im Januar 2018 ebenfalls bei Knaus. Auch erschien dort der Roman „Prinzessin Insomnia & der alptraumfarbene Nachtmahr“. Passend zur Weihnachtszeit ist für Ende des Jahres 2018 „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ angekündigt und auch der von Zamonien-Freunden lang erwartete Roman „Das Schloss der Träumenden Bücher“ ist dort weiterhin in Planung.
Fazit:
Schande über mein angegrautes Haupthaar, dass ich erst jetzt auf diese wunderschöne und atemberaubende Welt aufmerksam wurde. Als Neuling in Zamonien kann ich jedoch guten Gewissens behaupten, auch ohne Vorkenntnisse einen einfachen und unkomplizierten Einstieg in die Fantasie-Welt von Herrn Moers bekommen zu haben. Für Zamonien-Kenner sollte „Die Stadt der Träumenden Bücher“ sowieso auf der Einkaufsliste stehen und für alle anderen… eigentlich auch, oh meine geliebten Freunde.
Walter Moers, Florian Biege, Knaus
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