Vom Lückenfüller zum weltweiten Phänomen
Spuren…
…haben sie eindeutig hinterlassen. Egal, was jetzt noch kommen mag. Würden „Die Simpsons“ am morgigen Tag urplötzlich abgesetzt, würden sie dennoch nicht - wie unzählige Konkurrenzformate - in der Bedeutungslosigkeit - und damit aus den Köpfen der Menschen - verschwinden. Viel zu groß sind die gelben Fußstapfen, die die Chaos-Familie aus Springfield in das breite Feld der Popkultur getreten hat. Gerade in meinem Alter (junggebliebene 45… oder verlebte 12, wie man es halt sehen will) kenne ich niemanden, den Homer, Marge, Bart, Lisa, Maggie und Co. nicht zumindest auf einem kleinen Weg des Lebens begleitet hätten.
Sprüche und Lebensweisheiten wie „Ich bin so klug! K.L.U.K.!“ (Staffel 5, Episode 3: Homer an der Uni), „Wenn deine Nase anfängt zu bluten, hast du wahrscheinlich zu viel darin gebohrt. Oder zu wenig.“ (Staffel 9, Episode 14: Der blöde Uno-Club) oder „Ich habe 3 Kinder und kein Geld. Wieso kann ich nicht keine Kinder haben und 3 Geld?“ (Staffel 18, Episode 19: Brand und Beute) gingen neben Homers markantem „NEIN!“, Barts „Ay Caramba!“, dem mürrischen Knurren von Marge oder Mr. Burns‘ diabolischem „Ausgezeichnet…“ nicht selten in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Seit nunmehr 35 Jahren ist die gesamte Sippe aus einer Kleinstadt im Nirgendwo nicht mehr wegzudenken. Immer am Puls der Zeit und stets ein Spiegelbild der Gesellschaft. Ein ganz besonderes Markenzeichen, so sehr sie sich auch optisch von „normalen“ Menschen unterscheiden. Aber… was ist heutzutage noch normal?
Erfolg ist nicht planbar
Und so war Matt Groening, dessen Vater bereits ein erfolgreicher Karikaturist war, selbst überrascht von dem, was da unverhofft über ihn hereinbrechen sollte… und ihn schlussendlich durch eine spontan aus dem Ärmel geschüttelten Idee auf die Sonnenseite des Lebens verfrachten sollte. Doch aller Anfang war es schwer… um nicht zu sagen „die Hölle“.
1977 zog Groening, der in Portland, Oregon aufwuchs und später in Washington studierte, in die kalifornische Metropole Los Angeles. Seine Erlebnisse in der Großstadt hielt er in kurzen Comic-Strips fest, in denen sein Alter Ego ein vermenschlichter Hase mit starkem Überbiss war. „Life in Hell“ erschien zunächst im Selbstverlag, bevor 1980 erste Zeitungen die kurzen Strips abdruckten. Die Anzahl der veröffentlichenden Magazine und Zeitungen stieg schnell an, denn die zynischen Kurz-Abenteuer stießen auf viel Gegenliebe. So sehr, dass „Life in Hell“ ab 1986 gebündelt in Buchform erschien und zum Underground-Hit avancierte. Für Matt Groening und seine damalige Freundin Deborah Caplan, mit der er nicht nur die Bücher herausbrachte, sondern gleichzeitig auch erstes Merchandise auf den Markt warf, ein überraschender Erfolg.
Als der Hollywood-Produzent James L. Brooks auf die Strips aufmerksam wurde, wollte er unbedingt was mit Groening machen. Der Co-Schöpfer von damaligen US-Dauerbrennern „The Mary Tyler Moore Show“ und „Taxi“ bereitete für den noch jungen Sender FOX die Sketch-Comedy „The Tracey Ullman Show“ vor, und war noch auf der Suche nach Füllmaterial. Kurze Einspieler, die vor und nach Werbepausen gezeigt werden sollten. Groening wollte aber sein liebgewonnenes Zugpferd „Life in Hell“ nicht aus der Hand geben und kritzelte unmittelbar vor dem Termin mit Brooks eilig eine Alternative. Die krakelige Geburtsstunde der dysfunktionalen „Simpsons“-Familie… kreativ und in Hektik nach eigenen Mitgliedern der Familie Groening benannt.
Happy Birthday
Manchmal kann es so „einfach“ sein. Natürlich kamen die Filler beim US-Publikum super an, nahmen sie doch überzogen das auf die Schippe, was jedem heilig sein sollte: die Familie. Kannte man bisher nur die heile Welt des „Cosby“-Clans (was im Nachhinein betrachtet noch immer sauer aufstößt…), bürsteten sowohl „Die Simpsons“ als auch FOX‘ weiteres neues Comedy-Zugpferd „Eine schrecklich nette Familie“ (aka „Married… with Children“) die Sehgewohnheiten der Zuschauer auf links… und sie liebten es! So sehr, dass schnell beschlossen wurde, die gelbe Sippe aus Springfield aus ihren limitierten Bahnen ausbrechen zu lassen. FOX orderte eine ganze Staffel für die Primetime. Weder Groening noch alle anderen Involvierten glaubten, dass der Show ein langes Leben beschieden wäre, doch sie sollten sich sowas von irren!
„Die Simpons“ lösten die sympathische „Familie Feuerstein“ (aka „The Flintstones“) 1996 als die am längsten laufende Zeichentrick-Sitcom ab. Nicht der einzige und nicht der letzte Rekord. Seit ihrem TV-Start im Dezember 1989 laufen „Die Simpsons“ ununterbrochen im US-TV, was sie zur langlebigsten Primetime-Serie überhaupt macht. In Deutschland dauerte es zwar bis 1991, wo die ersten Episoden noch vom ZDF ausgestrahlt wurden, doch dank unzähliger Wiederholungen und Premieren neuer Folgen im abendlichen Hauptprogramm, erfreut sich seit Jahrzehnten der Privatsender PROSIEBEN am ungebrochenen Erfolg. Selbst Synchronsprecher-Wechsel konnten dem nichts anhaben, auch wenn die leider verstorbenen Stimmen von Marge (Elisabeth Volkmann) und Homer (Norbert Gastell) in späteren Staffeln schmerzlich fehlten.
Mich persönlich haben „Die Simpsons“ irgendwann verloren. So ungefähr nach dem Kinofilm von 2007. Es fehlte der Biss, welcher anfänglich noch - von genialen Autoren wie Al Jean, Conan O’Brien, Mike Reiss oder Sam Simon geschrieben - so bezeichnend für die Serie war. Nichtsdestotrotz waren „Die Simpsons“ schon immer dafür bekannt, dass sich dort Weltstars die Klinke in die Hand gaben und noch immer geben. Branchenübergreifend stand das Who-is-Who der Top-Stars regelrecht Schlange, um „simpsonisiert“ zu werden und das gelbe Alter Ego selbst einzusprechen: James Earl Jones, Larry King, Danny DeVito, Ringo Starr, Dustin Hoffman, Aerosmith, Magic Johnson, Sting, Elizabeth Taylor, Michael Jackson, U2, Leonard Nimoy, Bette Midler, die Red Hot Chili Peppers, Barry White, George Harrison, die Ramones, James Brown, Michelle Pfeiffer, Buzz Aldrin, Winona Ryder, James Woods, Kathleen Turner, Meryl Streep, Patrick Stewart, Mel Brooks, Susan Sarandon… nein, ich hör nicht auf… Mickey Rooney, Paul & Linda McCartney, Glenn Close, Donald Sutherland, Jeff Goldblum, Cypress Hill, The Smashing Pumpkins, Sonic Youth, Christina Ricci, Rodney Dangerfield, Johnny Cash, David Duchovny und Gillian Anderson, Willem Dafoe, Martin Sheen, Jay Leno, Helen Hunt, Bob Denver… komm, ein paar gehen noch… Steve Martin, Robert Englund, Jerry Springer, Alec Baldwin, Kim Basinger, Ron Howard, Cyndi Lauper, Dolly Parton, Elton John, Isabella Rossellini, Stephen Hawking, Mel Gibson, John Goodman… Endspurt!... Tim Robbins, Britney Spears, Betty White, Kid Rock, The Who, Stephen King, Edward Norton, Michael Keaton, Serena und Venus Williams, ‘N Sync, Pierce Brosnan, R.E.M., Paul Newman, Richard Gere, Lady Gaga, Anne Hathaway, Daniel Radcliffe, Katy Perry, Halle Berry, David Copperfield, Neil Gaiman, David Letterman, Natalie Portman, Stan Lee, Max von Sydow, Christopher Lloyd, Snoop Dogg, Mick Jagger, Keith Richards, Lenny Kravitz, Little Richard, Tony Hawk, Steve Buscemi, und, und, und… Es würde zu lange dauern, um alle aufzuzählen (fällt mir früh ein, was?).
Was war noch mal das Thema? Ach ja… GEBURTSTAG! Nicht nur zum 35. Jubiläum der „Simpsons“, sondern auch zum 70. Geburtstag ihres Schöpfers Matt Groening, hat der schauraum: comic + cartoon in Dortmund eine Ausstellung auf die Beine gestellt, in der Besucherinnen und Besucher noch bis zum 27. Oktober 2024 (bei freiem Eintritt!) in die Historie des Popkultur-Phänomens eintauchen können. Kuratiert von Dr. Alexander Braun, DEM ausgewiesenen Comic-Experten, finden sich dort Original-Drehbücher, Skizzen und Folien der Serien-Produktion, kunstvoll illustrierte Bilder und seltene Merchandise-Artikel.
Der gelbe Ziegelstein
Begleitend dazu hat Alexander Braun, der für seine akribischen Arbeiten schon mit dem Max und Moritz-Preis und gleich zweifach mit dem Eisner-Award ausgezeichnet wurde, den vorliegenden Katalog „Die Simpsons: Gelber wird’s nicht“ zusammengestellt. Ein unverzichtbares Werk für alle Fans der Springfield-Gang. Im hochwertigen und äußerst umfangreichen Werk findet sich alles, was man zu den „Simpsons“ wissen muss… und zudem noch interessante Fakten, von denen man nicht mal wusste, dass man sie wissen will.
So geht Braun detailliert auf das Leben von Matt Groening ein, was die lückenlose Entstehung der „Simpsons“ miteinschließt. Außerdem erfährt man haarklein, wie viel Aufwand nötig ist, um eine einzelne Episode vom Skript bis zur Sendefähigkeit zu entwickeln. Besonders interessant ist das umfangreiche Gespräch mit Bill Morrison, dem Mitbegründer von BONGO COMICS, wo die Comics der „Simpsons“ über viele Jahre erschienen und von Morrison als Chefredakteur betreut wurden.
Ein weiteres Highlight sind Abbildungen der stylischen Werke von Tim Doyle, einem Illustrator aus Texas, dessen eindrucksvolle Arbeiten irgendwo zwischen Pop Art und Comic-Kunst rangieren. Abgerundet wird der schwere Hardcover-Band von einem Style-Guide, der in gedruckter Form auch auf Merchandise spezialisierten Firmen vorgelegt werden. In diesem ist festgelegt, wie die Charaktere auszusehen haben, damit künstlerische Alleingänge nichts am bekannten Aussehen verfälschen. Für Hobby-Zeichnerinnen und -zeichner ein toller Leitfaden mit dutzenden Tipps und vereinfachenden Kniffen.
Fazit:
Auch wenn ich der TV-Serie nicht mehr aktiv folge, hatte ich unglaublich viel Spaß daran, mich mit der Historie der „Simpsons“ auseinanderzusetzen. Dr. Alexander Braun hat es nach „Will Eisner - Graphic Novel Godfather“ und „Horror im Comic“ (beide im AVANT-VERLAG erschienen) zum dritten Mal geschafft, dass wir die Höchstwertung für sein detailliertes Schaffen vergeben können. Die enthaltenen Zeichnungen mögen „Simpsons“-typisch einfach gehalten sein, jedoch ist die Auswahl abwechslungsreich und wird durch künstlerische Gastbeiträge deutlich aufgewertet.
Alexander Braun, Matt Groening, Diverse, Panini
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