Bodenlos?
Der Mythos
Nicht erst seit der Eisner Award prämierten Horror/Mystery-Serie „Gideon Falls“ (in sechs Bänden bei SPLITTER erschienen) sind der kanadische Autor Jeff Lemire und der italienische Künstler Andrea Sorrentino ein gut eingespieltes Team, arbeiteten sie zuvor doch schon gemeinsam für MARVEL an „Old Man Logan“ (PANINI) und für DC an „Green Arrow“ und zuletzt an der Black Label Mini-Serie „Joker: Killer Smile“ (PANINI). Nach ihrer IMAGE-Reihe „Primordial“ (SPLITTER), die nicht nur bei uns Eindruck hinterließ, ist es nun erneut der Horror, der die beiden Comic-Schwergewichte langfristiger an das Genre binden soll.
Ihr neues Baby ist der „Bone Orchard Mythos“. Welcher Mythos sich nun hinter einem Knochen-Obstgarten verbirgt, gilt es in Zukunft zu ergründen. Ziel von Lemire und Sorrentino ist es, weitestgehend eigenständige Graphic Novels und Mini-Serien innerhalb eines gemeinsamen Universums (shared Universe) zu schaffen. Ob Handlungsstränge irgendwann aufgegriffen werden oder gar zusammenlaufen, wie es zum Beispiel die Werke von Terry Moore - „Strangers in Paradise“, „Echo“, „Rachel Rising“, „Motor Girl“ und schließlich „Five Years“ (allesamt bei SCHREIBER & LESER) - vormachten, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht konkret absehen… obwohl es bereits einen ersten Anhaltspunkt gibt. Foreshadowing für aufmerksame Leser. Erzählerische und stilistische Grenzen soll es laut der beiden Schöpfer jedenfalls nicht geben.
Die amerikanischen Comic-Freunde sind uns da schon ein paar Schritte voraus: Die fünfteilige Mini-Serie „Ten Thousand Black Feathers“ ist in den Staaten schon komplett erschienen und der nächste Zehnteiler namens „Tenement“ läuft bereits. Für 2024 ist eine Graphic Novel unter dem Titel „Starseed“ angekündigt. Zum Free Comic Book Day 2022 brachte IMAGE bereits die Prelude-Story „Shadow Eater“ auf den Markt. Verpasst hat man hierzulande bis jetzt aber nichts, denn „Die Passage“ ist der erste Beitrag zum „Bone Orchard Mythos“ in deutscher Übersetzung. Schon Ende September 2023 geht es weiter, denn für diesen Termin hat SPLITTER die in einem Band abgeschlossene Graphic Novel „Zehntausend schwarze Federn“ im Programm.
Ein erstes Herantasten
Den wasserscheuen Geologen John Reed verschlägt es auf eine kleine Insel, wo der Kanadier im Auftrag der Geologischen Gesellschaft ein mysteriöses Phänomen untersuchen soll. Noch reichlich durchgeschüttelt von der rauen Überfahrt, macht er auf dem nahezu menschenleeren Felsbrocken, auf dem neben dem Leuchtturm nur eine einzige Hütte steht, die Bekanntschaft der entsprechend einzigen Bewohnerin. Sally Yandle hat der Zivilisation schon vor fünfundzwanzig Jahren den Rücken gekehrt und hat es nicht so mit Menschen. Entsprechend schroff ist auch der Ton. Reed will an diesem unwirtlichen Ort nicht unnötig Zeit verplempern und drängt darauf, den Grund seines Besuches gleich zu ergründen.
Mitten im Granitfels befindet sich ein Schacht. Kreisrund, nahezu perfekt. Professionell gebohrt? Eher nicht, denn das hätte Sal schon mitbekommen. Für ein natürliches Phänomen zu akkurat, für ein menschengemachtes Loch eindeutig zu tief. Und wie hätte man schweres Gerät, welches garantiert vonnöten gewesen wäre, dorthin transportieren sollen? Reed wirft kleine Felsbrocken hinab, hört sie aber nicht aufschlagen. Selbst für den erfahrenen Geologen ein Rätsel. Abhilfe soll eine Drohne, bestückt mit einer Kamera, schaffen. Doch selbst auf die moderne Technik ist nicht immer Verlass. Dennoch glaubt Reed, auf den Bildern etwas entdeckt zu haben…
Selbst nach Einbruch der Dunkelheit beschäftigt ihn der sonderbare Schacht. Entsprechend unruhig verläuft die Nacht, in der er von Albträumen der Vergangenheit geplagt wird. Es zieht ihn erneut zum sonderbaren Loch… und nicht nur auf ihn übt die scheinbar bodenlose Schwärze eine unheilvolle Anziehungskraft aus.
Slowburner
„Die Passage“ ist mit ihren 92 Seiten nicht die umfangreichste Graphic Novel. Der spärlich vorhandene Text mag vielleicht dazu verleiten, das Buch in einer kurzen Lese-Session durchzuackern, doch davon kann ich nur abraten. Man sollte unbedingt länger auf den Seiten verweilen, denn Jeff Lemire ist ein Autor, der sein Handwerk kennt… und versteht. Lest nur mal seinen „Unterwasser-Schweißer“ (HINSTORFF). Er verstreut hier viele Puzzleteile, die leicht übersehen werden können. Außerdem ist das realistische Artwork von Andrea Sorrentino es wert, dass man sich von seinen unheilschwangeren Bildern mit in die Tiefe ziehen lässt. Trotz aller Kürze nimmt die Geschichte sich Zeit, bis sie Fahrt aufnimmt. Genau das richtige Tempo, um die Bedrohung langsam aufzubauen.
Während Andrea Sorrentino stimmungsvoll und ebenso großflächig pechschwarze Tusche über die Seiten verteilt und viel mit Schattierungen spielt, sind die tristen Farben von Dave Stewart („Hellboy“, „Daytripper“, „The Walking Dead“) ungemein tragend für die düstere Atmosphäre. Immer wieder mischen sich untypische Farbkombinationen in die gräuliche Umgebung, womit der surreale Touch noch unterstrichen wird.
Fazit:
Jap, ich habe Blut geleckt. Kommt „Die Passage“ zwar etwas langsam aus dem Quark, kann ich nicht abstreiten, dass die Atmosphäre mich schon nach wenigen Seiten hatte. Ob das Konzept des „Borne Orchard Mythos“ aufgeht, werden die nächsten Beiträge zeigen, aber es wird wohl nicht verkehrt sein, jede Story genaustens unter die Lupe zu nehmen. Verbindungen werden mit Sicherheit in irgendeiner Form auftauchen… immerhin hat Sorrentino es sich nicht nehmen lassen, ein kleines „Primordial“-Easter-Egg einzubauen.
Jeff Lemire, Andrea Sorrentino, Splitter
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