Aufarbeitung einer Tragödie
Tatort: Paris
Am Vormittag des 7. Januar 2015 hielten die Menschen in Paris… in ganz Frankreich… auf der ganzen Welt den Atem an. Berichte über einen Terroranschlag in der französischen Hauptstadt verbreiteten sich wie ein Lauffeuer über alle öffentlichen und sozialen Medien. Es sollte der Anschlag mit den meisten Opfern seit dem Bombenattentat auf den Schnellzug der Bahnstrecke Paris-Strasbourg vom Juni 1961 werden. Dieser traurige Rekord hielt allerdings nur bis zu den grauenhaften Anschlägen vom November 2015, bei denen 130 Menschen ihr Leben verloren, sowie hunderte Personen teils schwer verletzt wurden. Zahlreiche Besucher der Diskothek Bataclan bezahlten diesen mit ihrem Leben und Millionen TV-Zuschauer wurden Ohrenzeugen der Detonationen, die vor dem Fußball-Stadion Stade de France, während des Freundschaftsspiels zwischen der französischen und der deutschen Nationalmannschaft, zu hören waren.
Rund zehn Monate vor dieser Anschlagsserie stürmten zwei bewaffnete, islamistisch motivierte Männer die Redaktionsräume des erfolgreichen, wöchentlich erscheinenden Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ in der Rue Nicolas Appert. Zwölf Menschen sollten an diesem Tag ihr Leben verlieren… fünf weitere Unschuldige wurden bei einem Anschlag in einem koscheren Supermarkt getötet. Die terroristischen Attacken zogen sich über drei Tage hin und lähmten eine ganze Nation.
Je suis „Charlie“… mais qui suis-je?
Weltweit schwappte eine Welle der Anteilnahme bis an die Seine und jeder war „Charlie“. Der Satz „Je suis Charlie“ fand sich auf unzähligen Profilbildern und wurde millionenfach via Facebook oder Twitter geteilt. Fast jede Tageszeitung drückte mit diesen Worten ihr Mitgefühl mit den französischen Freunden aus und so wurde „Je suis Charlie“ zum Sinnbild für Meinungsfreiheit… zu einem kreativen Schlachtruf gegen den Terror.
Eine Frau stellte sich nach den Ereignissen vom 7. Januar aber eine ganz andere Frage. Sie WAR „Charlie“… doch wer war sie JETZT?
Catherine Meurisse arbeitete seit zehn Jahren für die Zeitschrift, doch die wöchentliche Redaktionskonferenz verpasst sie an diesem schicksalshaften Mittwochmorgen. War es Schicksal? War es vielleicht einfach nur Glück? Oder Zufall? Einer schlaflosen Nacht und einem verpassten Bus verdankt sie letztendlich ihr Leben. Ein Leben, dass von diesem Tag an ohne Freude, Schönheit, „Leichtigkeit“ auskommen muss. Ein Leben in einer Blase… traumatisiert durch die Ereignisse in der Redaktion. Traumatisiert durch den Verlust von Kollegen und Freunden. Catherine beschließt, dass sie sich ihre Kreativität, ihre Lebensfreude zurück erobern möchte. Doch Museumsbesuche, Theatervorstellungen oder ein Trip in die Natur verfehlen die erwünschte Wirkung. Leere… emotionslose Leere.
Sie legt ihre letzte Hoffnung in das „Stendhal-Syndrom“, benannt nach dem französischen Schriftsteller Marie-Henri Beyle. Dieses besagt, dass das übermäßige Konsumieren von Kunst eine Reizüberflutung hervorrufen kann, die zu Ohnmacht, Herzrasen und sogar Halluzinationen führt. Die italienische Psychiaterin Graziella Magherini bestätigte diese These mit über 100 belegten Fällen seit den späten 70er Jahren. Touristen der Kunstmetropole Florenz wurden durch die Schönheit der zahlreichen Kunstobjekte übermannt und mussten behandelt werden.
Catherine Meurisse beschließt, ihr lähmendes Trauma durch ein anderes zu ersetzen, sich durch Ästhetik zu kurieren und sich so ihre „Leichtigkeit“ zurückzuholen. Sur, ça va en Italie!
Verarbeitung vs. Verdrängung
Die skizzenhaften und eher groben Zeichnungen scheinen das Gefühlsleben der Autorin sehr gut einzufangen. Einige ihrer Bilder wirken wie eilig gekritzelte Momentaufnahmen. So auch der Text. Wie schnell eingefangene Gedanken. Gedanken, die überhastet in einem ausgefransten Notizblock festgehalten wurden…
Was sich jetzt vielleicht auf den ersten Blick wie Kritik anhört, soll in Wirklichkeit keine sein. Genau diese Bilder verleihen dem Buch Authentizität. Der schwarz/weiß-Kontrast, der anfänglich sehr selten unterbrochen wird, sich aber im Laufe der Geschichte zusehends verflüchtigt. Die Farbe kehrt zurück in Catherines graues und tristes Leben. Wir Leser werden Zeuge bei ihrem Wiederentdecken der „Leichtigkeit“, während sie uns mit erschütternden Tatsachen, tieftraurigen Momenten und zynisch-humorvollen Kommentaren durch ihre niedergeschriebene Selbsttherapie führt. Wundervoll aquarellierte Landschaftsaufnahmen brechen immer wieder durch, bis sie letztendlich das Ruder übernehmen und das erhoffte Wiederfinden der „Leichtigkeit“ zelebrieren.
Der Carlsen-Verlag hat der eindrucksvollen Traumabewältigung von Catherine Meurisse einen gebührenden Rahmen verpasst und legt „Die Leichtigkeit“ als hochwertige Hardcover-Ausgabe vor. Das wunderschöne Frontmotiv gibt einen Vorgeschmack auf die zuvor beschriebenen Aquarelle im Buch und besticht durch seine matte, leicht angeraute Oberfläche. Auch die Papierqualität ist tadellos und angenehm dick, bzw. wertig.
Ein ausführliches Vorwort wurde von Philippe Lançon verfasst, einem französischen Autor und Journalisten, der bei dem Attentat durch die Islamisten-Brüder lebensgefährlich verletzt wurde.
Fazit:
„Die Leichtigkeit“ trifft den Leser da, wo es weh tut. Es werden Erinnerungen wachgerufen, die man am liebsten wieder verdrängen würde. Dass es aber auch anders geht, zeigt uns Catherine Meurisse eindrucksvoll mit ihrem mutigen und sehr persönlichen Buch. Ein ehrliches Werk einer Frau, die sich zurück ins Leben geschrieben und gezeichnet hat.
Da in „Die Leichtigkeit“ häufiger zitiert wird, möchte ich an dieser Stelle auch mit einem Zitat abschließen:
Man kann von einem Leiden nicht genesen, wenn man es nicht in ganzer Stärke durchlebt.
- Marcel Proust (1871-1922)
Catherine Meurisse, Catherine Meurisse, Carlsen
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