„Lass dein Bewusstsein in den Fluss des Nestes gleiten…“
Die weit entfernte Zukunft... Eine radioaktiv verseuchte, postapokalyptische, fast unbewohnte Erde... Die Menschen sind auf den Mars weitergezogen und breiten sich im umliegenden Asteroidengürtel immer weiter aus. Doch gibt es auf der alten Heimat noch einiges an Schätzchen zu holen. So lässt sich der junge Forscher Joachim von dort mit wissenschaftlichen Werken versorgen, weswegen er von der Leitung des fortschrittsgewandten, diktatorisch anmutenden Instituts ausgeschlossen wird. Just in dieser schweren Stunde erreicht ihn ein ungewöhnliches und interessantes Angebot von der Erde, das er sich nicht entgehen lassen will…
In einem Schloss in den Bergen sitzt die Forscherin Martha, deren Team an Experten darauf spezialisiert ist, aus den Trümmern, die die Menschen auf dem ehemals blauen Planeten zurückgelassen haben, Relikte der Vergangenheit zu bergen. Bei einer dieser Missionen jedoch ist ihre kleine Tochter Lise tragisch zu Tode gekommen. Nun wird Joachim vor die Aufgabe gestellt, aus dem genetischen Material des Kindes einen lebensfähigen Embryo zu erschaffen, den Martha austragen und im Brutkasten im Eiltempo wieder auf 10 Jahre heranwachsen lassen will – das Alter, in dem Lise verunglückt ist. Doch nicht nur Joachim hat sich an dem kleinen Körper zu schaffen gemacht. Und was genau in jenem Labor schließlich erwacht, ist ungewiss. Geht der Mensch manchmal einfach zu weit?
„Heilige Mutter von Phobos!“
Eine ordentliche Portion Science/Fiction, ein paar Scheiben traditioneller Horror, ein Schuss Cyber- sowie eine Prise Steampunk, und einmal kräftig durchrühren – was für ein abgefahrenes Rezept, das überraschend gut aufgeht! Vatine kommt ohne plumpe Erklärungen und Rückblenden aus, um den Leser glaubhaft in ein Universum zu versetzen, wo trotz des technologischen und wissenschaftlichen Fortschritts – oder gerade deswegen – so einiges schiefläuft. So fühlt man sich von der Graphic Novel nicht bevormundet, sondern darf die vielen Lücken mit der eigenen Fantasie füllen, ohne aber überfordert oder verwirrt zu sein. Vielmehr wird man immer wieder mit spannenden Einfällen in Atem gehalten.
Die mutierten Kraken, welche Forscher in der Mitte des 21. Jahrhunderts entwickelt haben, um bei Arbeiten auf dem Meeresgrund zu helfen, haben sich auf unvorhersehbare Weise weiterentwickelt. Diese Wesen, die im Laufe der Zeit ins Reich der Legenden verbannt worden waren, scheinen ein ganz eigenes Ziel zu verfolgen. Ein Mitglied dieser Spezies nimmt mit dem Körper der kleinen Lise nach deren tödlichen Sturz Kontakt auf. Damit scheinen die Weichen für Unheil gestellt. Das, was Joachim aus dem kleinen Mädchen klont, sieht aus wie sie – das bleibt aber nicht lange so. Das Feuerwerk an Ideen, das dieser Comic zündet, gipfelt in einem Finale des Schreckens, in dem auch ein Hauch Kritik mitschwingt an der Besessenheit davon, um jeden Preis nach vorne zu schauen, wenn doch ein gelegentlicher Blick zurück die Menschheit viel eher voranbringen würde... Leider hört die Story gerade dann auf, wo es so richtig spannend wird.
„Ich glaube nicht an Wunder…“
Bei aller Originalität der Geschichte sind vor allem die Zeichnungen von Varanda hervorzuheben. Der Stil an sich ist nichts neues, aber die Umsetzung meisterhaft. Die Szenen auf dem Mars stellen mit schlicht-futuristischem, hellem Design den menschlichen Fortschritt dar. Die Szenen auf der Erde hingegen sind durchzogen von unwirtlichen Wetterlagen, gelblichem Dunst und dreckiger Dunkelheit. Sobald Joachim das Schloss betritt, in dem Martha residiert, werden Elemente des traditionellen Gothic Horror aktiviert, was – gepaart mit den Gedankenansätzen der Story – an Frankenstein erinnert.
Ein starkes Spiel mit Licht und Schatten, harte Kontraste und die gedämpfte Farbpalette mit ein paar knalligen Sprenkeln dazwischen bilden mit den unterschiedlichen Genres, welche die Handlung bedient, eine perfekte Einheit. Der schraffierte Zeichenstil, der an die Muskeln eines einzigen großen Organismus denken lässt, vollendet das ausdrucksstarke und stimmungsvolle Design, das trotz der Bandbreite der dargebotenen Ideen wie aus einem Guss wirkt und durch eine filmgleiche Dynamik besticht. Die Figuren (abgesehen von den stark an Lovecraft erinnernden Kraken) treten dadurch – gewollt – in den Hintergrund. Die braucht es aber auch gar nicht, denn das Konzept ist hier der wahre Star. Gepaart mit der ausnehmend guten Ästhetik schwingt sich diese Graphic Novel in ihren besten Momenten so in die Höhen der Meister der Genres herauf, auf die sie zurückgreift.
Fazit:
Fast möchte man nach Fortsetzung schreien… Wäre Die Lebende Tote nicht so arg kurz, würde die Wertung vielleicht noch einen Ticken besser ausfallen. Potenzial, das Enthaltene noch auszubauen und weiter zu entfalten, ist definitiv gegeben. Doch auch so, wie sie ist, bietet die Graphic Novel einen durchweg originellen und spannenden Trip, den sich kein Comicfan entgehen lassen sollte!
Olivier Vatine, Alberto Varanda, Splitter
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