Natsukashi*
„Domo dankegato!“
Die französische Illustratorin Catherine Meurisse ließ uns bereits zweimal an ihren autobiographischen Erlebnissen teilhaben. Bis 2015 arbeitete sie beim populären Satire-Magazin „Charlie Hebdo“, welches in eben jenem Jahr durch traurige Umstände weltberühmt wurde. Das tragische und nicht minder barbarische Attentat überlebte Catherine Meurisse nur dank einer Verkettung glücklicher Umstände. Die innere Leere, die sie danach empfand, versuchte sie mit einer Reise nach Italien wieder aufzufüllen, indem sie sich mit der Schönheit der Kunst umgab. Herausgekommen war das intensive Reisetagebuch „Die Leichtigkeit“. Anschließend nahm uns Catherine in Form ihres Comic-Alter-Egos mit in ihre Kindheit. Dort, wo sie auf dem ländlichen Hof ihrer Eltern aufwuchs, steht erneut die wiedergewonnene Leichtigkeit im Fokus. Die, die nach dem Attentat langsam aber sicher wieder in ihr Leben trat, und die, die sie während ihrer unbeschwerten Kindheit in der Natur empfand. Nach „Weites Land“ folgt nun ein weiterer Trip. In „Nami und das Meer“ begeben wir uns nach Japan. Allerdings beruht die dort erzählte Geschichte nicht auf selbst erlebte Begebenheiten, sondern adaptiert lose den Roman „Das Graskissenbuch“ (jap.: „Kusamakura“; 1906) des japanischen Schriftstellers Natsume Sōseki (1867 – 1917).
Eine namenlose Künstlerin aus Frankreich hat sich ins ferne Japan aufgemacht, um am anderen Ende der Welt Inspiration zu schöpfen. Sie sammelt Ideen, saugt Eindrücke auf, um mit frischen Impressionen ihr Zeichenbuch zu füllen. Sie möchte ihr „westliches inneres Bildarchiv auffrischen“, wie sie es ziemlich treffend bezeichnet. Gerade in ihrer Künstler-Unterkunft angekommen, muss sie auch schon feststellen, dass sie vergessen hat, ihren Pinsel einzupacken. Lediglich mit den simplen Verständigungs-Vokabeln „Konichiwa“ (= „Guten Tag“), „(Domo) arigato“ (= „(Vielen) dank“, „Onegai shi masu“ (= „Bitte“) und „Mata me“ (= „Bis dann“) ausgestattet, zieht es die wissbegierige Malerin gleich in die unbekannte Natur. Nicht ganz freiwillig, denn ein Tanuki (ein einem Waschbären nicht unähnlicher Marderhund) lockt sie aus ihrer Unterkunft. Schnell entpuppt sich dieser als waschechter Yōkai, in der japanischen Mythologie weitverbreitete Gestalten übernatürlichen Ursprungs. Glücklicherweise ist der Herr Tanuki sehr gesprächig und nimmt die junge Künstlerin sprichwörtlich an die Hand… mehrfach. Außerdem stattet der hilfsbereite Bursche sie mit einem neuen Pinsel aus, den er aus seinem… ja, das müsst Ihr selber sehen, um es zu glauben. Jedenfalls stellt sich der kleine Kerl als äußerst hilfreicher Ratgeber heraus, was sowohl künstlerische Fertigkeiten als auch philosophische Denkanstöße betrifft. Das regt die Inspiration an… und auch die Neugier. Nun, bestens ausgestattet mit den nötigen Malutensilien, geht es für die Künstlerin weiter durchs idyllische Unbekannte. Auf ihrem Weg trifft sich nicht nur einen einheimischen Maler, welcher sich als wahrer Poet entpuppt, dafür aber unter einer zeichnerischen Blockade leidet, oder drei Herren, die beim gemeinsamen Malen in Nostalgie schwelgen, sondern macht auch die Bekanntschaft der mysteriösen und ebenso schönen Nami, die auf seltsame Weise mit den Naturgewalten verbunden scheint. Und Nami prophezeit ein gewaltiges Unwetter…
„Das ist ein Werkzeug! Kein Talisman!“
Catherine Meurisse besuchte 2019 selbst die Villa Kujoyama, eine 1992 vom Architekten Kunio Kato erbaute Künstler-Residenz in Kyoto. Die Einrichtung fördert den kulturellen Austausch zwischen japanischen und französischen Künstlerinnen und Künstlern und wird von namhaften Kreativen aus den Bereichen Literatur, Musik, Malerei oder Design besucht. „Nami und das Meer“ entstand während dieser Zeit, weshalb auch im aktuellsten Werk von Meurisse wieder eine autobiographische Note vorhanden ist. Dazu nutzt sie großzügig die Rahmenhandlung des bereits angesprochenen Romans „Das Graskissenbuch“ und reichert das Geschehen mit gehaltvollen Gesprächen, philosophischen und nachdenklich stimmenden Tönen und einer herrlichen Note ihres bissigen Humors an. Diverse Klischees werden zwar ebenfalls bedient, was aber nicht despektierlich daherkommt, sondern die kulturellen Unterschiede und Denkweisen zusätzlich überzeichnet unterstreicht.
Im Gegensatz zur Künstlerin im Buch, die vom geschwätzigen Tanuki erst dazu angehalten werden muss, ihr Malwerkzeug doch endlich mal zu benutzen, geht Catherine Meurisse der Umgang mit Pinsel und Tuschefeder leichter von der Hand. Das feingeistige Sammelsurium kreativer Ideen und Inspirationsquellen wird in wunderbar natürlichen Bildern dargestellt. Erneut nutzt Meurisse ihren bereits bekannten Stil, in dem sie weiche, farbenfrohe Aquarelle mit skizzenhaften Cartoon-Charakteren kreuzt. Culture-Clash als bildliche Ausdrucksform. So gelingt ihr mit „Nami und das Meer“ nicht nur die perfekte Urlaubslektüre, sondern ein phantastisch angehauchter Comic im Großformat, bei dem man mühelos die eigene Seele baumeln lassen kann.
Fazit:
Catherine Meurisse ist erneut ein wunderschönes Buch voller Poesie und feinem Humor geglückt. Trotz Sprachbarrieren ist die junge Künstlerin in „Nami und das Meer“ keineswegs Lost in Translation, sondern erkundet ihre ungewohnte Umgebung voller Schönheit mit offenen Augen und ebenso offenem Herzen. Ein wohltuendes Abtauchen aus Hektik und Reizüberflutung, bei dem der Ruhepuls mit den schönen Illustrationen im Einklang ist.
* Warme Erinnerungen an schöne Zeiten, die das Gefühl wohliger Vertrautheit wecken… pure „Nostalgie“.
Catherine Meurisse, Catherine Meurisse, Carlsen
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