„Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“
Ein Dorf im 19 Jahrhundert, irgendwo im Ostwestfälischen, erfunden, aber doch exemplarisch:
Nicht arm, nicht reich, jeder kennt jeden, man hilft sich und lässt keinen verkommen, zerreißt sich aber auch das Maul übereinander. Zum Beispiel in der Kirche, als die Gemeinde in den Bänken darauf wartet, dass das Hochzeitspaar zum Altar schreitet. Die alte Margret heiratet; die Margret, der früher keiner recht war, jetzt muss sie nehmen, was da ist. Den Hermann, jünger als sie, unstet im Lebenswandel und überhaupt, man wird sehen, was sie davon hat, „aber ein altes Haus, das brennt kann man nicht löschen.“ So beginnt „Die Judenbuche. Den Titel kennt man, als Schullektüre vielleicht, aber auch irgendwie sonst, genau wie den Namen der Autorin. Annette von Droste-Hülshoff ist eine der wenigen Frauen, die schon zu Lebzeiten und auch heute noch diesen Beruf hatten und bekannt und berühmt waren. Ihr Bild war lange auf dem 20-Mark-Schein.
Ein Reclam-Heftchen als Graphic Novel
Worum es in der Geschichte geht, weiß man dann doch nicht mehr, aber man erfährt es schnell, wenn man weiterliest und schaut und blättert in dieser Graphic Novel, zu der die Novelle – wie der Originaltext literaturwissenschaftlich korrekt heißt – hier geworden ist.
Auf den ersten Blick ist es ein Krimi. Es geht um vier Todesfälle, angelehnt an eine wahre Begebenheit und nie wirklich aufgeklärt; in echt nicht und nicht in der Geschichte. Der erste Tote ist Hermann, Margrets Mann. Wie die lästernde Dorfgemeinschaft vorausgesagt hat, hat sie keine Freude an ihm, im Gegenteil. Er trinkt, schafft wenig, schlägt sie, das Kind – Friedrich, der bald nach der Hochzeit geboren wurde. Einmal schubst der Vater den Kleinen gegen eine Säge; von dieser Begebenheit behält er eine große Narbe zurück. Der Vater stirbt; unter mysteriösen Umständen, darüber erfahren wir aber nur so viel, wie auch der kleine Friedrich erfährt, der heimlich beobachtet, wie eines Nachts die Leiche seines Vaters nach Hause gebracht wird, erfroren.
Friedrich geht nicht mehr zur Schule, hütet das Vieh und sein Onkel, Margrets Bruder, der etwas halbseidene Simon Semmler gibt ihm Arbeit. Bei Simon lernt Friedrich Johannes kennen, mit Nachnamen Niemand, weil er niemand als Eltern hat – allerdings dem Simon sehr, sehr, sehr ähnlich sieht. Aber auch das wird in der Geschichte nicht aufgeklärt. Kann ja auch Zufall sein oder der Spaß an der Gerüchteküche im Dorf; Simon könnte ja tatsächlich einen Waisenjungen bei sich als Viehhirten arbeiten lassen. Einfach aus Freundlichkeit und Sparsamkeit, deswegen muss es ja nicht gleich sein uneheliches Kind sein. Könnte natürlich. Aber wieso und wer mag die Mutter sein…
Der zweite, dritte, vierte Tote
Der zweite Tote ist der Förster, der nachts auf der Jagd nach Holzdieben erschlagen wird. Einfach Holz aus dem Wald zu holen, obwohl „der Herrgott es frei wachsen lässt“, so erklärt Margret es ihrem Sohn, genau wie das Wild, was da herumläuft, war und ist streng verboten. War aber damals , auch aus der Not heraus, gang und gäbe wie heute Steuerhinterziehung oder Versicherungsbetrug.
Jedenfalls, eines Nachts kommt der Förster um. Friedrich war mit den Kühen draußen und der letzte, der ihn lebend gesehen hat. Er hat ein Alibi, weil er pünktlich zu Hause war; sein Onkel Simon hat nicht wirklich eines. Friedrich hat ein schlechtes Gewissen. Im Prozess gibt es für nichts Beweise, also auch keinen Täter und keine Tatbeteiligten.
Das Leben geht weiter, Friedrich wird erwachsen, arbeitet bei seinem Onkel und hütet seiner Mutter das Vieh. In seiner Freizeit achtet er sehr auf sein Äußeres, wofür er sich auch mal Geld leihen muss. Auf einer Feier spricht ihn sein ehemaliger Schulkollege Adam an und erinnert ihn, dass er noch Schulden bei ihm hat. Friedrich wird sauer, so bloßgestellt vor alle den Leuten. Es gibt ein bisschen Randale. Zwei Tage später liegt Adam erschlagen im Wald unter einer großen Buche. Auch hier wird nie ein Täter überführt, auch wenn das Dorf natürlich Friedrich verdächtigt. Adam war Jude und die jüdische Gemeinde beantragt, den Baum als Denkmal unter Schutz zu stellen, zum Andenken an Adam und richtet ihn mit einer hebräischen Inschrift als Mahnmal her.
Friedrich verlässt das Dorf, mit ihm Johannes Niemand.
Viele Jahre später kommt ein alter zerlumpter Mann aus türkischer Kriegsgefangenschaft zurück, Johannes Niemand, wie er sagt. Die Dorfgemeinschaft päppelt ihn auf, er spaziert herum und erzählt von seinen Erlebnissen in den Türkenkriegen. Und wird eines Tages vermisst – und gefunden, erhängt in der sogenannten Judenbuche . Als man ihn abschneidet und ins Dorf bringt, sieht man die große Narbe am Hals, die von der Säge stammt. Es war also Friedrich, nicht Johannes.
Und der Spruch auf dem Baum lautet: „Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.“
Am Ende der Geschichte ist dann also auch die Hauptfigur tot und der Leser weiß nicht wirklich was passiert ist.
Was auf den ersten Blick unbefriedigend ist, ist aber die genau die eigentliche Botschaft der Geschichte:
was stimmt, was nicht, was ist Schein und Sein, was Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, was Wirklichkeit ist, was Vermutung, Klischee, Vorurteil.
Original und neue Fassung
„Die Judenbuche“ war und ist kein Schmökerfetzen, sondern eine Geschichte, bei der wir Leser mitdenken müssen. Genau wie das sperrige Original ist auch dieser Comic, der beschwingt von Bild zu Bild tanzt. Die Bilder sind mehrheitlich schwarz-weiß-grau . Oft sind sie so ineinander verschachtelt, das sie sich nicht auf den ersten Blick eindeutig aufeinander beziehen. Die Figuren sehen alle so ähnlich abgehärmt aus, so dass man manchmal zweimal hinschauen muss: ist das jetzt der Friedrich, der Johannes, der Simon?
Fast bekommt man Lust das alte Reclam-Heft zu suchen, und Stellen nachzulesen. Vielleicht war man als Schüler gar nicht zu dumm, diesen komplizierten Text zu verstehen? Sondern es ging genau darum, ständig nicht zu verstehen.
Genau darauf spielt übrigens auch der Leiter der Droste-Forschungsstelle an, der in seinem Nachwort hofft, „diese gelungene künstlerische Adaption wird dem Originaltext voraussichtlich noch manche interessierten neuen Leser bescheren“. Wer weiß.
Wichtiger ist vielleicht, dass „diese gelungene künstlerische Adaption“ die Geschichte an sich weiterleben lässt. Ein Originaltext aus dem 19. Jahrhundert ist irgendwann einfach tot und verstaubt wie ein aufgespießtes Insekt im Museum. Das besondere an Klassikern ist aber gerade das Gegenteil: die Geschichte existiert in den Köpfen der Menschen und lebt in der jeweiligen Form weiter, die zum jeweiligen Zeitgeist passt. Und zu heute passen Bilder. Können sie doch auch mehr transportieren als der Text, nicht nur die düstere, verwischte Stimmung, sondern die gesamte Atmosphäre und Kulisse, die früheren Lesern sofort vor Augen gestanden haben wird, weil sie es aus eigenem Erleben kannten: die Enge in den Häusern, die Kirche, die viele Arbeit, die Kleidung der Menschen, der wirklich dichte und unheimliche Wald. Die Bilder zeigen diese Kulisse wie nebenbei und man findet sich auch heute schnell in dieser dörflichen Atmosphäre ein, weil man ja nur etwas nachempfinden und sich in seiner Fantasie vorstellen kann, was man irgendwie kennt.
Mehr Lust als das Original zu lesen macht das Buch sich auf Spurensuche zu begeben, was den Original-Kriminalfall angeht. Vor allem, wenn man wie die Rezensentin, im Westfälischen wohnt und es gar nicht weit hätte. Diese Neugier wird in einem ausführlichen Text im Nachwort befriedigt.
Und auch das Thema „Judentum“ wird im Nachwort thematisiert. Zwar können im – heutigen – Comic die gängigen „Juden-sind-Schelme-und-haben-unseren-Herrgott-ermordet“-Sprüche durch kluge und neugierige Fragen des kleinen Friedrichs konterkariert werden: „Ist der Herrgott tot jetzt?“
Aber: der eigentliche Clou ist ja die Inschrift im Baum. Der Fluch. Die schwarze Magie, die den Juden seit alters her zugeschrieben wird. Das ist nämlich aus heutiger Sicht durchaus problematisch. Auch wenn es eine alte Kriminalisten-Weisheit ist, dass der Täter immer wieder zum Tatort zurückkommt.
Fazit
Das Merkmal eines Klassikers ist es, dass die Geschichte im kollektiven Gedächtnis existiert, ohne dass man den Originaltext im Einzelnen kennt, kennen muss oder gar mögen muss. Dass es neue Fassungen gibt, angelehnte Fassungen, Theaterstücke, Filme. Von der berühmten Judenbuche gibt es jetzt eine Variante mehr: das Reclam-Heft als Comic, die Novelle als Graphic Novel. Nicht besser oder schlechter als das Original, sondern anders und heutiger; und gut umgesetzt.
Julian Voloj, Annette von Droste-Hülshoff, Claudia Ahlering, Knesebeck
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