Die Farbe der Dinge
- Edition Moderne
- Erschienen: März 2020
- 0
Eine dysfunktionale Familie, bunte Kreise und ein Blauwal
Zum Teufel mit den Kohlen!
In Simons Leben läuft nicht wirklich viel rund. Von anderen Teenagern gehänselt, gegretelt und gemobbt, sieht er sich immer wieder deren Übergriffen ausgesetzt. In der Gruppe stark, erpressen sie Geld oder andere Gefälligkeiten von ihm. Als schwer übergewichtiger Außenseiter hat man es also auch im royalen England nicht leicht. Die abgebrühten Jungen Eddy, Richard und Will spannen den Burschen mit dem überschaubaren Selbstwertgefühl immer wieder ein, um irgendwie an Kohle zu kommen. Die heißgeliebten Zigaretten, die die Drei zu fressen scheinen, bezahlen sich halt nicht von selbst (aktueller Kurs für 20 Dampfmänner in UK = 12,23€). Neuerdings haben die Lümmel ein Auge auf die rundliche Wahrsagerin Winney McMurphy geworfen, die ihre schweren Einkäufe immer per Taxi nach Hause befördert. Wer sich solch einen Luxus leisten kann, muss die Kohle recht locker sitzen haben… zumindest in der Vorstellung der geschäftstüchtigen Jungen. Da ihr Ruf ihnen allerdings vorauseilt, soll Simon sich als Lieferdienst für Mrs. McMurphys Waren anbieten… und den Lohn natürlich an den Schlägertrupp abdrücken. Simon willigt nach kurzem Zögern ein. Wohl auch, um Richards Schwester Lorna zu gefallen.
Gesagt, getan. Doch anstatt Simon für seine Dienste mit Geld zu überhäufen, revanchiert sich die Wahrsagerin mit einem Gratis-Blick-in-die-Zukunft. Hurra… Doch sie sagt ihm voraus, dass er große Dinge erleben werde. Eine Suche, die ihn nach Liverpool führen wird und… den Tod. Anfangen wird alles, wenn Simon beim Royal Ascot-Pferderennen auf den richtigen Gaul setzt. Freundlicherweise sagt die Dame Simon direkt die komplette Reihenfolge des Ziel-Einlaufs. Perfekt! Nun muss nur noch das nötige Kleingeld zum Wetten her.
Nachdem sich Simon ein paar warme Worte von Eddy, Richard und Will abgeholt hat, die ihm unter Androhung, ihm ein wenig die Leber zu perforieren, falls er ihnen nicht die durch die Lappen gegangenen Flocken auf den Tisch knallt, noch ein kleines Ultimatum einräumen, macht er sich schleunigst auf den Heimweg. Dort hängt mal wieder der Haussegen schief. Leider keine Seltenheit, denn Dan, Simons aufbrausender Vater, verjubelt nur allzu gerne das Geld bei Pferde-Wetten und im örtlichen Pub, wo er sich regelmäßig einen anlötet bis die Kirsche glüht. Keine gute Mischung. Bei Simon herrscht auch Ebbe in der Kasse und in seiner Not bricht er Daddys Geldkassette im Schlafzimmer auf. Wow… damit hat der Junge nicht gerechnet: Satte 1.000 Pfund befinden sich in dem Metallkästchen! Und als wäre es ein Wink des Schicksals, wird im TV gerade über das Royal Ascot und dessen Tages-Highlight berichtet. Noch zwei Stunden bis zum Diamond Jubilee Stakes, DEM Rennen, zu dem Winney McMurphy zum vollen Einsatz geraten hat.
Simon setzt alles auf eine Karte und nimmt das Geld. Tatschlich schafft er es, im Wettbüro eine Wette zu platzieren. Vermutlich, weil der Sack hinterm Tresen sich den Einsatz von 1.001,99 Pfund nicht entgehen lassen will… und dem vorausgesagten Sieger Black Caviar, der bei den Experten keine Rolle zu spielen scheint, ebenfalls keine großen Chancen einräumt. Da hat er aber auf Kies gefurzt, denn Mrs. McMurphy lag richtig. Und zwar… mit allem!
Lehr- und aufschlussreich
Dies ist nur der Beginn der Tour-de-Force des 14-jährigen Simon Hope. Wir erleben ein emotionales Auf und Ab voller Dramen, Rück- und Niederschlägen, Gewalt, Humor und auch Herz. Coming-of-Age trifft hier auf Familien-Tragödie, gepaart mit einem abenteuerlichen Road-Trip. Als wäre die packende Story nicht schon allein überzeugend genug, ist diese optisch noch so verpackt, dass man sich auf den ersten Blick vielleicht noch fragend am Kopf kratzt und bestimmt felsenfest überzeugt ist, dass diese SO garantiert NICHT funktionieren kann. Und was tut sie? Sie FUNKTIONIERT! Und zwar so gut, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Aber fangen wir mal von vorne an:
Bestimmt kennt jeder von uns noch die „erklärenden“ Informationsgrafiken aus dem Schulunterricht. Obwohl meist ziemlich abstrakt, sind diese Grafiken, die oft aus der Vogelperspektive dargestellt sind, beliebte Darstellungsform, um Informationen möglichst simpel an den Betrachter zu vermitteln. Man denke nur an Diagramme, Struktogramme, Land- und Straßenkarten, die Aufbauanleitungen eines schwedischen Möbelhauses… okay, den letzten Punkt streichen wir, aber in der Regel sollen solche Grafiken auf den ersten Blick und einfachsten Wege klarmachen, wo der Hammer hängt. Dass dies jetzt auch in Comics Verwendung findet, nahm ich persönlich etwas verwundert, jedoch nicht kategorisch ablehnend auf. Zum Glück! Sonst wäre mir nämlich entgangen, wie ideenreich der Künstler hier vorgegangen ist. Immer wieder gibt es Abzweigungen und Querverweise, die schon fast selbsterklärend sind und immer Sinn ergeben. Auch dass die Geschichte in dieser Form so wunderbar funktioniert, war für mich nicht vorhersehbar. Umso größer die positive Überraschung, denn die Figuren haben mehr Tiefe und Charakter, als manch aufwendig illustrierte Story. Nicht umsonst steht in der Überschrift des nächsten Absatzes, wie ich „Die Farbe der Dinge“ bezeichnen würde…
Von STAR WARS zum MEISTERWERK… mit STAR WARS
Der Schweizer Comiczeichner Martin Panchaud, der heute in Zürich lebt und arbeitet, sorgte bereits 2016 für Aufsehen, als er sich den allerersten STAR WARS-Film von 1977 – heute bekannt als „Episode IV: Eine neue Hoffnung“ – zur Brust nahm. In einem aufwändigen Projekt, in das Panchaud über 1.000 Arbeitsstunden investierte, brachte er diesen Sci-Fi-Meilenstein aufs digitale Papier. Und zwar auf eine einzige Seite. Auf einer Breite von 27cm und einer wahnwitzigen Länge von ziemlich genau 123 METERN(!) hat er den kompletten Film aus der Vogelperspektive in Adobe Illustrator CC umgesetzt. Ebenfalls im Stil einer Infografik, kann man einfach nicht anders und scrollt immer weiter, bis entweder der Finger abfällt oder das Mausrad glüht. Das hat selbst den stärksten Jedi (in diesem Fall Luke Skywalker) aus den Socken geschossen und Mark Hamill höchstpersönlich twitterte seine Begeisterung in die Welt.
Martin Panchaud, dessen Arbeiten bereits ausgezeichnet, ausgestellt und im Schweizer Comic-Magazin STRAPAZIN abgedruckt wurden, legt mit „Die Farbe der Dinge“ seine erste Graphic Novel vor. Und da ließ er es sich natürlich nicht nehmen, STAR WARS erneut einen kleinen Besuch abzustatten. Diesmal gibt es einen kleinen Schwank aus dem Mittelteil der Ur-Trilogie - „Episode V: Das Imperium schlägt zurück“ von 1980, welcher bei nicht wenigen Fans als bester Beitrag der gesamten Saga angesehen wird -, dessen abgedruckter Inhalt perfekt zur Handlung des Buches passt.
Jeder, dessen Interesse nun geweckt ist, sollte dem ungewöhnlichen Stil von Martin Panchaud eine Chance geben. Allein die herzzerreißende, lustige und abenteuerliche Geschichte, die einen immer wieder vergessen lässt, dass man „nur“ auf bunte Punkte schaut, ist es wert, sich diese tolle Hardcover-Graphic-Novel mal genauer anzuschauen. Das Cover gibt schon einen guten Vorgeschmack. Der Hauptcharakter Simon ist übrigens rechts unten zu sehen. Genau… der kleine Flatschen in Orange-Braun.
Fazit:
Einen großen Dank an Martin Panchaud, der die eh schon vielfältige Comic-Palette um eine neue Farbe erweitert. Und Lob an den Schweizer Verlag Edition Moderne, der so mutig war, diesem ungewohnten und einzigartigen Stil ein hochwertiges Buch zu widmen. Wer hätte gedacht, dass simple Farb-Punkte so viel Tiefe erzeugen könnten? Ich nicht… Und was es mit dem in der Überschrift erwähnten Blauwal auf sich hat, sollte jeder interessierte Leser für sich selbst herausfinden. B-52, so der Name des riesigen Säugetieres, ist der Knaller!
Martin Panchaud, Martin Panchaud, Edition Moderne
Deine Meinung zu »Die Farbe der Dinge«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!