„Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.“ -Erich Kästner
Der ständige Begleiter
Der Begriff „Angst“ ist allgegenwärtig. Kinder haben Angst vor der Dunkelheit, Monstern unterm Bett und dem Zahnarzt. Erwachsene vor der Altersarmut, Jobverlust und dem Finanzamt. Man fürchtet sich vor Höhen, kann kein Blut sehen, springt beim Horrorfilm von der Couch und ekelt sich vor krabbelndem Viehzeugs. Andere fürchten sich vor Krankheiten, Einsamkeit oder dem Tod. In der heutigen Zeit sind auch Ängste vor Terror, Klimawandel und nuklearer Bedrohung weit verbreitet… was durchaus verständlich ist. Viele dieser Sorgen und Ängste sind – mehr oder weniger – rational erklärbar, beziehungsweise lassen sich greifen und auf einen Auslöser zurückführen.
Anders verhält es sich, wenn Angstgefühle nicht mehr an bestimmte Ausgangssituationen gekoppelt sind und fast schon eigenmächtig die Kontrolle übernehmen. Die Angst, die mitunter lebensrettend sein kann und uns hilft, Gefahren zu erkennen und entsprechend auf diese zu reagieren, verselbstständigt sich und löst in harmlosesten Situationen einen Fehlalarm aus. Plötzliche Schweißausbrüche, Herzrasen, flache Atmung und weiche Knie. Schwindel, Zittern, Übelkeit und eine Achterbahn, die mit überhöhter Geschwindigkeit lautstark durch den Kopf brettert. Dies sind Symptome, die Angstpatienten nur allzu gut kennen. Oft belächelt und mit „Stell dich nicht so an“-Sprüchen heruntergespielt, sind solche unwissenden Aussagen nur ein weiterer Schlag ins Gesicht der Betroffenen und sorgen dafür, dass Angststörungen und Panikattacken zum Tabuthema geworden sind. Ein Tabuthema, das die Dunkelziffer an Erkrankten nur erahnen lässt. Hervorgerufen durch Krankheiten, Verluste und sonstige Lebenskrisen kann jeder Mensch in eine Situation geraten, in der er seine Gefühlswelt nicht mehr kontrollieren kann. Betroffene haben sich ihre seelische Last nicht ausgesucht… und auch nicht ihre Flucht- oder Vermeidungstaktiken, die mit diesem Krankheitsbild oft einhergehen.
Angst ist im Grunde also ein Teil von uns allen. Ein angeborenes Grundgefühl, welches dem Selbstschutz dient und mal mehr, mal weniger ausgeprägt ist. Unabhängig von Herkunft, Größe, Alter und Geschlecht. Kindliche Ängste erledigen sich mit dem Heranwachsen oft von selber, wie zum Beispiel die Angst vorm „schwarzen Mann“, der im dunklen Keller lauern könnte. Dennoch sollte auch Kindersorgen Gehör verschafft werden, da diese auch im jungen Alter sehr belastend sein können. Epiphanie würde dem mit Sicherheit zustimmen…
Auf Schritt und Tritt
Epiphanie ist acht Jahre alt und trägt bereits eine schwere Last auf ihren schmalen Schultern. Besser gesagt, sie zieht sie hinter sich her. Epiphanies seelischer Ballast ist nämlich ihr eigener Schatten. Manifestiert in einem bedrohlichen Ungetüm, wächst dieses schneller, als es dem kleinen Mädchen lieb sein kann und überragt sie bei weitem. Der unwillkommene Begleiter auf Schritt und Tritt sitzt ihr auch im Nacken, als sie atemlos durch einen dunklen Wald hetzt, nachdem uns bereits im Vorfeld demonstriert wurde, wieviel Platz das düstere Wesen in Epiphanies Leben einnimmt. Den Verfolger dicht auf den Fersen, stolpert das Mädchen aus der Finsternis und landet auf einer freundlichen, deutlich helleren Lichtung. Mittendrin steht die kleine Hütte des Wegweisers, von dem Epiphanie sich erhofft, eine Auskunft zu bekommen. Sie ist nämlich auf der Suche nach der Praxis von Doktor Psyche. Dieser soll dabei behilflich sein, sie von ihrer Angst zu befreien. Vom Wegweiser kann sie allerdings keine Hilfe erwarten, denn der Gute hat selber so einige Problemchen. Nachdem er ohne Punkt und Komma plaudert, ohne auch nur einen nützlichen Hinweis zu liefern, gibt er zu, dass er „sich verloren“ hat. Er hat seine Ernsthaftigkeit und Bodenständigkeit verloren, was ihn verzweifeln lässt und regelrecht den Boden unter den Füßen wegzieht. Wie sollte er in diesem Zustand Rat erteilen, wenn er nicht in der Lage ist, Fragen zu beantworten? Trotz ihrer eigenen Probleme hat die hilfsbereite Epiphanie das Herz am rechten Fleck und bietet dem vom Boden losgelösten Wegweiser ihre Hilfe an. Er soll sie zu Doktor Psyche begleiten, damit dieser auch ihn kurieren kann… hoffentlich.
Dort angekommen, rät der Doktor Epiphanie zu einer Therapie, die ihr helfen soll, mit ihrer Angst umzugehen. Ab hier wird es dann wortwörtlich „haarsträubend“. Da ihr vor Angst die Haare zu Berge stehen und sich nicht mehr bändigen lassen, wird Epiphanie zum Friseur geschickt. Dem Doktor zu widersprechen fällt schwer, denn schneller als das überraschte Mädchen sich versehen kann, wird sie quer durch die wundersame Welt geschleift, bis sie prompt im Salon eines mehr als merkwürdigen Barbiers aufschlägt. Dieser macht sich direkt ans Werk. Wie man auf die Idee kommt, dass ein Friseurbesuch von Ängsten befreit, erschließt sich mir zwar nicht so ganz, aber was soll’s… Jedenfalls macht der Scherenschwinger mit dem markanten Sprachfehler bald Bekanntschaft mit Epiphanies Angst, welche die Kleine wieder vollkommen einnimmt und ans Tageslicht befördert. Niedergeschlagen und der Verzweiflung nahe, trifft sie hier auf den Ritter ohne Furcht und Tadel. Kann dieser wackere und angstfreie Edelmann Epiphanie endlich von ihrem Schatten befreien? Oder führt sie ihr Abenteuer noch weiter durch die phantastische Welt, die ständig mit neuen Überraschungen aufwartet?
Zwischen OZ und Wunderland
Irgendwo dort lässt sich die Handlung von „Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck“ wohl am ehesten verorten. Die Autorin Séverine Gauthier schafft es, ein modernes Märchen zu erzählen, das sowohl mit phantastischen Elementen glänzt, dabei aber die Realität nicht außen vor lässt. Diese prescht nämlich in Form von Epiphanies Angst in den Vordergrund, welche dem armen Mädchen schwer zu schaffen macht. Natürlich ist diese Angst visuell bedrohlich dargestellt, um die Probleme der Achtjährigen für den Leser greifbar zu machen. Das dunkle Monster, welches sich nicht abschütteln lässt, stetig wächst, Epiphanie lähmt, kontrolliert und zur Verzweiflung bringt. Schaut man allerdings genauer hin, ist der Schatten für den außenstehenden Betrachter aber gar nicht so monströs… was aber nichts an der Tatsache ändert, dass die Leidtragende ihn unbedingt loswerden möchte. So verhält es sich auch im realen Leben. Dinge, die für viele Menschen normal sind, völlig gefahrlos und über die sie nicht mal nachdenken würden, können für Angsterkrankte die wahre Hölle sein. Leider fehlt da oft das Verständnis, da man sich in die unsichtbaren Ängste und Sorgen nur schwer hineinversetzen kann. Bei „Epiphanie Schreck“ hilft also die visuelle Darstellung der Angst.
Ankreiden würde ich hier die abschließende Lösung des Problems, welche ich hier aber keineswegs vorwegnehmen möchte. Man darf hier nämlich nicht die ultimative Lösung für den Umgang mit Ängsten erwarten. Wäre es so einfach, wie im Buch dargestellt, würden Millionen Angstpatienten vor Freude einen Luftsprung machen und müssten nicht monatelang auf spärlich vorhandene Therapieplätze warten und sich jeden Tag aufs Neue ihren quälenden Dämonen stellen. Nein, so leicht ist es leider nicht… jedoch sollte man nicht vergessen, dass sich „Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck“ an ein junges Publikum richtet. Mit dieser Zielgruppe im Visier, trifft man dann auch deutlich ins Schwarze. Das Thema „Angst“ wird kindgerecht verpackt und in einer fantasievollen – wenn auch teilweise abstrusen – Handlung verarbeitet.
Auch optisch ist der Band ein echtes Highlight. Die großen und übersichtlichen Panels bieten wunderschöne Aquarelle, an denen Jung und Alt Gefallen finden werden. Wenn ihre Angst Epiphanie zu verschlingen droht, wird dies künstlerisch hervorragend gelöst, ohne die jüngsten Leser zu verschrecken. Zeichner Clément Lefèvre erschafft eine wundervolle Welt, voller illustrer Charaktere, die mit sympathischen Macken und Eigenheiten überzeugen und Epiphanie bei ihrer Mission unterstützen. Die Farben sind warm und harmonisch und unterstreichen zudem den märchenhaften Ton der Geschichte. Viele Seiten laden zum Verweilen und Staunen ein.
Fazit:
Ein großes Lob an den Splitter Verlag, dass man sich dort dieses Themas angenommen hat. Mit „Betty Boob“ hatte man kürzlich erst das Thema Brustkrebs im Programm und lieferte eine wunderschöne und mutmachende Geschichte ab, die fast komplett ohne Text auskam. Bei „Die entsetzliche Angst der Epiphanie Schreck“ gibt es zwar deutlich mehr zu lesen, jedoch verfehlt auch hier die Botschaft nicht ihre Wirkung. Das schöne, großformatige Hardcover lässt den Inhalt auch optisch perfekt wirken und verfügt auf der Front über eine silberne Tiefenprägung beim Schriftzug.
Im Anhang findet sich noch ein augenzwinkerndes „Kleines psychiatrisches Handbuch für Phobiker“, welches fiktive und ungewöhnliche Ängste beleuchtet… zumindest glaube – und hoffe - ich, dass diese Phobien fiktiv sind. Zudem ist auf der letzten Doppelseite noch mit „Das entsetzliche Spiel der Epiphanie Schreck“ ein kurzweiliges Gesellschaftsspiel abgedruckt.
Séverine Gauthier, Clément Lefèvre, toonfish
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