Western von gestern
Erbarmungslos
Die Geschichte beginnt im staubtrockenen und trostlosen Nevada des Jahres 1870. Der junge Angus reist mit seiner Mutter und anderen Passagieren Richtung Eureka, als die Reisekutsche inmitten der verlassenen Einöde überfallen wird. Die vermummten Männer fackeln nicht lange und schießen sofort aus allen Rohren. Es gibt Tote und die Kutsche wird unfreiwillig zum Stehen gebracht. Nachdem die Passagiere zum Aussteigen gezwungen wurden, fällt das Interesse der Übeltäter auf Angus‘ Mutter… und das räuberische Gesindel ist drauf und dran, sich an ihr zu vergehen. Geistesgegenwärtig greift der Junge zu den Waffen eines Mitreisenden und eröffnet, getrieben von Wut und Hass, beidhändig das Feuer auf die skrupellosen Angreifer. Dann erwacht er…
15 Jahre sind seit diesem traumatischen Erlebnis ins Land gezogen und aus dem Jungen ist ein Mann geworden. Angus Whitecross hat sich längst einen Namen gemacht und avancierte zum gefürchteten Kopfgeldjäger. Sein Ruf ist legendär und seine Opfer kennen ihn unter dem Namen „Der Reverend“. Nun ist seine Zeit gekommen und der zweifelhafte Geistliche mit dem bleispuckenden Gebetsknüppel kehrt zurück in seine Heimatstadt. Zurück nach Eureka.
Das Goldgräberkaff ist mittlerweile fest in den Händen des reichen Industriellen Cartus Nance. Er zieht die Fäden in dem Städtchen und seine zweifelhafte Gefolgschaft sorgt für Ordnung. Während der dreitätigen Feierlichkeiten zu seinen Ehren, kommt es allerdings zu einem nächtlichen Zwischenfall, der das feuchtfröhliche Treiben mit den Amüsierdamen im örtlichen Saloon jäh unterbricht. Der ansässige Barbier wird tot in seinem Laden aufgefunden und ein vermeintlich Schuldiger ist auch schnell ausgemacht… der mysteriöse Gottesmann mit den markanten Revolvern.
Im Westen nichts Neues
Machen wir uns nichts vor, denn im Grunde erzählt „Der Reverend“ eine augenscheinlich simple Rachestory, die so typisch für das Western-Genre ist, wie ein Duell um 12 Uhr mittags und eine ordentliche Kneipenschlägerei zu launigem Klavier-Geklimper. Das Rad wird also nicht neu erfunden, aber dennoch würde ich „Die Teufel von Nevada“ nicht als Reinfall bezeichnen und vom Lesen abraten… und zwar aus folgenden Gründen:
Die Geschichte vom Jungen, der nach einem einschneidenden Erlebnis Rache schwört und sich nach Jahren an den Peinigern seiner Mutter austobt, mag sich zwar oberflächlich anhören, wirft jedoch schon bei der anfänglichen Rückblende auf den auschlaggebenden Überfall Fragen auf… Wenn Angus Whitecross bereits unmittelbar nach, beziehungsweise während des Übergriffs auf seine Mutter zu den Waffen griff, um die Ganoven umzunieten, was führt ihn dann 15 Jahre später erneut nach Eureka? Welche wichtigen Details aus seinem Traum liegen noch im Verborgenen? Was hat der örtliche Barbier verbrochen und welche Rolle spielt der einflussreiche Cartus Nance in Angus‘ Plan? Fragen über Fragen, aber eines ist sicher… „Der Reverend“ HAT einen Plan, und den verfolgt er auch.
Diese durchaus interessante Geschichte gewinnt zwar keinen Innovations-Preis, ist aber auch alles andere als langweilig. Als Leser wird man doch neugierig auf das gemacht, was Mr. Whitecross antreibt und wie es ihm gelingt, sich der Vergangenheit zu stellen. Alle offenen Fragen werden aber wohl endgültig erst im zweiten Band beantwortet, der die Geschichte um den „Reverend“ dann zum (hoffentlich befriedigenden) Abschluss bringt.
Die rechte und die linke Hand des Teufels
Die mit zwei Bänden überschaubare Reihe stammt vom französischen Autor Christophe Lylian, dessen Arbeiten meist nur seinen Nachnamen tragen. Nach „Der Reverend“ erscheint bereits im August 2018 ein neues Werk des 1975 geborenen Szenaristen. Nach dem Western-Genre, vor dem er sich zwar klassisch verbeugt, ihm aber keine neuen Impulse entlocken kann, widmet er sich einem komplett anderen Thema und interpretiert das berühmte Märchen von „Schneewittchen“ neu. Seine Version, die sich nah am Original orientieren soll und von Nathalie Vessillier illustriert wurde, wird - ebenso wie „Der Reverend“ - beim Splitter Verlag veröffentlicht.
Der 1987 im Norden Frankreichs geborene Zeichner Augustin Lebon studierte das Comic-Handwerk an der renommierten Kunsthochschule Institut Saint-Luc in Brüssel. Mit der Zusammenarbeit mit Lylian legt er auch sein zeichnerisches Debüt vor und haucht dessen bleihaltiger Geschichte Leben ein. Das Western-Ambiente wird dem Leser ansprechend präsentiert und gestaltet sich flüssig und detailliert. Der Mimik, der an Zeichentrick-Figuren erinnernden Charaktere, hätte ein wenig mehr Ausdrucksstärke gut zu Gesicht gestanden – im wahrsten Sinne des Wortes – was den Realismus etwas leiden lässt. Die vorherrschend braun/beige Farbgebung trägt in ihren verschiedenen Variationen hingegen wieder gut zur Western-Atmosphäre bei. Für ein Erstlingswerk sicher eine solide Arbeit, wenn auch keine Meisterleistung.
Fazit:
Western-Freunde, die nach „Undertaker“, „Durango“, „Mac Coy“, „Der Mann, der keine Feuerwaffen mochte“ oder „Lucky Luke“ auf der Suche nach neuem Genre-Lesestoff sind, machen mit „Der Reverend“ garantiert nichts falsch. Der rachsüchtige Pistolero mit der (noch) undurchsichtigen Vergangenheit überzeugt durch menschliche Züge, die viele seiner berühmten Kollegen oftmals in der Wüste vergraben zu haben scheinen. „Der Reverend“ wirkt nicht wie ein abgestumpfter, unnahbarer und unbesiegbarer Einzelkämpfer, der sich ohne mit der Wimper zu zucken durch Gegner-Horden ballert. Whitecross macht Fehler und fängt sich auch mal eine, was seiner Figur Glaubwürdigkeit verleiht und den legendären „Reverend“ verletzlich erscheinen lässt.
Dieser befindet sich neben dem ebenfalls frisch bei Splitter veröffentlichten ersten Band von „Marshall Bass“ auch in guter Gesellschaft und beweist, dass das Genre noch lange nicht tot und begraben ist. Für zukünftiges Wildwest-Feeling ist ebenfalls gesorgt, denn im Laufe des Jahres erwarten uns noch Titel wie „Catamount“, „Sonora“ und „Lonesome“… allesamt im Programm von Splitter erhältlich.
Lylian, Augustin Lebon, Splitter
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