Der Report der Magd

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Der Report der Magd
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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonAug 2020

Story

Ein Literatur-Klassiker in neuem Gewand. Die Story funktioniert auch perfekt in Comic-Form, dafür sorgt die Autorin des Bestsellers höchstpersönlich.

Zeichnung

Kreativ, modern und trotzdem im besten Sinne klassisch. Renée Nault vereint verschiedene Stile, die überraschenderweise gut harmonieren.

Born in the USA

"Selig sei die Frucht“

Schöne neue Welt… Wer dachte, dass die Vereinigten Staaten von Amerika aktuell am Arsch sind, hat noch keinen Blick in die nicht näher definierte Zukunft geworfen. Eine Verseuchung der Umwelt hat für eine fast flächendeckende Sterilität gesorgt. Folglich werden kaum noch Kinder geboren. Und noch weniger gesunde Kinder. Nach dem brutalen Sturz der Regierung wurde die Verfassung außer Kraft gesetzt und ein religiös-fundamentalistisches Regime übernahm die Macht. Aus dem einstigen Land der unbegrenzten Möglichkeiten wurde eine theokratische Militärdiktatur: Die neu gegründete Republik Gilead. Den Frauen wurden ihre Rechte entzogen, ebenso alle Wertsachen, die an ihre nächsten männlichen Verwandten übergingen. Gleichgeschlechtliche Liebe wurde strengstens verboten und unter Strafe gestellt. Gebärfähige Frauen kommen in ein Umerziehungslager, genannt Das Rote Zentrum. Dort werden sie auf ihre kommenden Aufgaben vorbereitet, unter den strengen und wachsamen Augen der Tanten. Fortan sollen sie als Mägde in die Dienste der höhergestellten Gesellschaft treten. Als wandelnde Gebärmaschinen, die den kinderlosen Paaren zu Nachwuchs verhelfen sollen, während die sogenannten Marthas sich um den Haushalt der wohlhabenden Herrschaften kümmern. Widerworte oder Verweigerungen werden nicht geduldet. Regelbrüche werden mit Folter oder im schlimmsten Fall mit dem Tod bestraft. Auch andere Regime-Gegner werden nicht geduldet. Durch Tod durch den Strang werden sie öffentlich zur Schau gestellt… als abschreckendes Beispiel für Kritiker und die sowieso schon eingeschüchterten Mägde. Eine dieser Mägde ist June. Diesen Namen darf sie allerdings nicht mehr tragen. Im Hause ihres Kommandanten, Fred Waterford, heißt sie nur noch Desfred.

NOLITE TE BASTARDES CARBORUNDORUM *

Der Name, der den Mägden gegeben wird, ist ein Patronym, bestehend aus einem Possessivartikel, der den Besitz angibt, und dem Vornamen des jeweiligen Herrn. So tragen zwei von Desfreds Leidensgenossinnen nun nicht mehr ihre Namen Emily und Janine, sondern die von ihren Kommandanten abgeleiteten Patronyme… Desglen und Deswarren (zumindest in der TV-Serie).

Einmal im Monat findet die Zeremonie statt. Die Magd liegt im Schoß der Ehefrau, während der Gatte sie befruchtet. Genauer gesagt… sie vergewaltigt. Denn nichts anderes ist diese abscheuliche Tat, die mit hochtrabenden Bibelversen entschuldigt und auf paradoxe Weise als etwas Positives und Heiliges vertuscht wird. Wird die Magd nicht schwanger, trägt sie die Schuld. Ist ihr Kommandant gar zeugungsunfähig, ebenso. Eine kranke, verdrehte Welt, die Rechte mit Füßen tritt, Frauen entmenschlicht und auf erschreckende Art und Weise zeigt, wohin fehlgeleiteter Glaube führen kann. Desfred, die in ihrem früheren Leben selbst verheiratet war und zusammen mit ihrem Mann Luke ein Kind hat, funktioniert einfach nur. Desillusioniert und der Hoffnung beraubt, ihre kleine Tochter jemals wiederzusehen. Tante Lydia, die schreckliche Aufseherin mit dem schmerzenden Elektroschocker, hatte den Mägden im Roten Zentrum einst geraten, dass sie sich lieber vorstellen sollten, dass ihre Kinder tot seien… um mit ihrem alten Leben abzuschließen und sich besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren zu können: Das Austragen von ungewolltem Nachwuchs… für Fremde, ja sogar verhasste Individuen.

Im Fahrer der Waterfords, Nick, scheint Desfred jedoch einen Verbündeten gefunden zu haben. Jedenfalls macht der junge Mann Anspielungen, die sie hoffen lassen. Aber auch der Kommandant, Mr. Waterford, sucht immer mehr Desfreds Nähe. Er lockt mit Kleinigkeiten aus der schönen alten Welt. Kleinigkeiten, die uns banal vorkommen mögen, für die Magd aber mittlerweile utopischen Luxus darstellen. Doch wem kann Desfred trauen? Die Augen des Systems sind schließlich überall… und dass es tatsächlich eine Untergrund-Organisation geben soll, die das Regime boykottiert, klingt wirklich zu schön, um wahr zu sein. Eines ist klar: Desfred muss Risiken eingehen, damit sie dieser entmenschlichenden Hölle entkommt.

"Unter seinem Auge“

Unter dem Deckmantel des Glaubens werden hier die schrecklichsten Verbrechen begangen. Verbrechen, von denen wir höchstens aus Geschichtsbüchern kennen, und die wir für weit, weit entfernt halten. Dass selbst heute noch Verblendete im Namen ihres Glaubens zu Gewalt aufrufen, unbeschreibliche Taten begehen und beispielloses Leid verursachen, ist schlimm genug, sich aber vorzustellen, dass sich eine vermeintlich zivilisierte Welt um 180 Grad dreht und Rechte und Gesetze außer Kraft setzt, um religiös-diktatorische Staatsformen zu errichten und als neue Norm zu etablieren, erschreckt nicht nur, sondern stößt zutiefst ab.

Ich, der mit der Kirche ungefähr so wenig zu tun hat, wie der Papst vom… ihr wisst schon, war teilweise echt entsetzt, auf welche abwegigen Anschauungen sich in der Erzählung berufen wird. Die Akteure drehen und wenden sich ihre Bibel-Zitate so, wie es ihnen am besten in den Kram passt. Fällt dann wohl unter Auslegungssache. Auch im Hinblick auf die TV-Serie (näheres dazu im nächsten Absatz) ging mir der Bibel-Tick gehörig auf den Senkel. Als jemand, der zuletzt bewusst die Kirche bei seiner Konfirmation besuchte (traurige Beerdigungen mal ausgenommen), wo man uns sogar noch um den Messwein beschissen und mit Traubensaft abgespeist hatte, und als einer, der das Abendgebet auch gern mal sausen lässt, war ich von der Glaubens-Macke des dargestellten Systems schon fast überfordert. Letzten Sonntag wachte ich sogar schweißgebadet auf, aus Angst, dass mir Tante Lydia den Arsch bis zum Stehkragen aufreißt, weil ich den Gottesdienst vergessen hab. Dann fiel mir ein, dass ich überhaupt keine Tante namens Lydia hab… verrückt.

Gedruckt, gefilmt, gezeichnet

Geschaffen hat diesen dystopischen Albtraum die kanadische Schriftstellerin und Dichterin Margaret Atwood. Erstmalig bereits 1985 erschienen, wurde der Stoff schon 1990 als „Die Geschichte der Dienerin“ mit Natasha Richardson, Faye Dunaway, Robert Duvall und Aidan Quinn verfilmt. Regie führte damals der deutsche Filmemacher Volker Schlöndorff („Die Blechtrommel“, „Homo Faber“). Atwood, die für ihre Arbeit mit unzähligen Preisen ausgezeichnet wurde, ist auch die Schöpferin der „MaddAddam“-Trilogie, bestehend aus „Oryx und Crake“, „Das Jahr der Flut“ und „Die Geschichte von Zeb“ (alle erschienen bei Piper und als Hörbuch bei Ronin), und setzte ihren Kult-Roman „Der Report der Magd“ (Piper) 2019 mit „Die Zeuginnen“ (Berlin Verlag) fort.

Begleitend zur vorliegenden Graphic Novel, die hervorragend aufgemacht als Hardcover im Berlin Verlag erschien, habe ich mich auch erstmalig mit der gefeierten TV-Serie „The Handmaid’s Tale“ befasst, um einen Vergleich zu haben. Hier kann ich nur sagen, dass die gezeichnete Adaption mich mehr abgeholt hat. Inhaltlich deckt die erste Staffel den Stoff der Graphic Novel ab. Jedoch ist diese deutlich straffer erzählt, was ich sehr begrüßt habe. Tatsächlich habe ich mich mehr oder weniger durch die erste Season gequält, da diese sich wie Kaugummi gezogen hat. Und – so leid es mir tut – nach den ersten fünf Folgen konnte ich das leidende Gesicht der Hauptdarstellerin Elisabeth Moss nicht mehr ertragen. Dass es ihr schlecht geht, die Situation für sie unerträglich ist und jeder Tag aufs Neue eine Qual ist, versteht selbst der letzte Seppel nach nur zehn Minuten der ersten Folge. Da muss die Kamera nicht in endlos langen Einstellungen noch gefühlte Minuten auf ihr Gesicht zoomen, während ihre Augen sich langsam mit Tränen füllen. Allein mit Desfreds Tränenflüssigkeit aus der ersten Staffel könnte James Cameron seine „Avatar“ 2 bis 9 drehen. Dann der starre Blick, mit halb geöffnetem Mund und zuckender Unterlippe. Und das in fast jeder Szene. Immer und immer wieder. Vielleicht wären weniger Folgen angebrachter gewesen, denn allein in den ersten drei Episoden der zweiten Staffel ist deutlich mehr passiert als in der gesamten Season 1. Das macht diese hochbrisante Serie natürlich nicht per se zum Reinfall, was jedoch das unausgegorene Pacing angeht, empfand ich das Zuschauen als sehr fordernd.

Gut, erzählerisch hat die Graphic Novel für mich also schon mal die Nase vorn. Dann kommt aber noch die graphische Umsetzung. Funktioniert diese denn auch? Ja, tut sie. Die Zeichnungen selbst sind vielleicht keine Meisterleistung, vielmehr ist es die Art, WIE die kanadische Künstlerin Renée Nault bei der Adaption vorgegangen ist. Mit dezentem, teils schon zerbrechlich wirkendem Strich hat sie die Dystopie in tristen Farbtönen zum Leben erweckt. Dabei arbeitet sie auch mit Flashbacks, die teilweise in leuchtenden, sanften Farben daherkommen. Erinnerungen an bessere Zeiten. Manchen wurde dann wieder gänzlich die Farbe entzogen. Dramatische Erlebnisse kommen dann fast schon skizziert und mit deutlichen dickeren und hektischeren Outlines daher. Abwechslungsreich und trotzdem nahtlos ineinandergreifend. Besonders markant ist natürlich das kräftige Rot, welches in der Dienstkleidung der Mägde diese immer wieder in den Fokus des Betrachters rückt. Sie sind der Dreh- und Angelpunkt. Die Leidenden.

Desfazit:

Margaret Atwood, die Autorin des Kult Romans, griff selber zum Stift und überarbeitete ihren Stoff für diese extrem intensive Graphic Novel. Mit den gelungenen und aussagekräftigen Zeichnungen von Renée Nault ist die Adaption ein Paradebeispiel für eine erschreckend-provokante und eindringliche Dystopie. Lobet ihn.

 

* LASST EUCH VON DEN BASTARDEN NICHT UNTERKRIEGEN

Der Report der Magd

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