Im Schatten der Kathedrale
Tragische Schicksale
Es war der 6. Januar 1482, als der Dreikönigstag mit dem beliebten Narrenfest auf ein und dasselbe Datum fiel. Ganz Paris war aus dem Häuschen und die Massen strömten auf den Platz vorm Justizpalast, um Teil des ausgelassenen Treibens zu werden. Höhepunkt sollte ein vom Poeten Pierre Gringoire inszeniertes Theaterstück sein, welches sich jedoch zeitlich immer weiter nach hinten verschob. Die Menge quittierte diese Verzögerung mit Missachtung und zog es vor, der Wahl des jährlichen Narrenpapstes die vollste Aufmerksamkeit zu schenken. Wenig überraschend, fiel die Wahl auf Quasimodo, den viele unter dem Beinamen „Hinkebein“, „der Einäugige“ oder „der Bucklige“ kannten. Alle hingegen kannten ihn als „Glöckner von Notre-Dame“.
Als verstoßenes Kleinkind auf den Stufen des Vorplatzes der Kathedrale abgelegt, nahm sich der Archidiakon Dom Claude Frollo des Findelkinds an. Missgebildet und abgeschirmt von der Öffentlichkeit, wuchs Quasimodo zum starken Mann heran. In Claude Frollo sah er eine Art Mentor und Vater gleichermaßen, dem er stets aufs Wort gehorchte. Unter seiner Anleitung wurde er der Glöckner, der seine Aufgabe stets gewissenhaft erfüllte. Daran änderte sich auch nichts, als er auf Grund des lauten Geläuts sein Gehör verlor.
Als die Menge ihren neuen Narrenpapst so feiernd und grölend durch die Stadt trug, blieb dies auch vorm Archidiakon nicht verborgen. Entsetzt setzte er dem Treiben ein Ende, da seinem Schützling der Spott der Menschen gewiss war.
Derweil hatte sich Pierre Gringoire enttäuscht vom Ort des Geschehens zurückgezogen, sah er seine Kunst doch ganz und gar nicht gewürdigt. Als er so durch die Gassen schlenderte, kam er ein einen belebten Platz, wo fahrendes Volk bei brennenden Feuern feierte. Ganz und gar verzaubert war er von der schwarzhaarigen Schönheit, die wirbelnd um die Flammen tanzte. La Esmeralda, stets in Begleitung ihrer treuen Ziege, die kleine Kunststücke präsentierte, um Schaulustige gleichermaßen zu unterhalten und zu verblüffen.
Doch Pierre Gringoire war nicht der Einzige, den Esmeraldas Anmut und Schönheit mitten ins Herz traf. Selbst der fromme Claude Frollo konnte nicht aus seiner Haut… und ebenso wenig Quasimodo. Als dieser versuchte die Schöne des nachts zu entführen, stellte sich ihm Phoebus, der Hauptmann der königlichen Bogenschützen, entgegen. Quasimodo wurde festgenommen und auf dem belebten Platz vor aller Augen zur Schau gestellt. Gepeinigt und gedemütigt, war es ausgerechnet Esmeralda, die sich der armen Kreatur erbarmte. Noch nicht ahnend, dass sie schon bald selbst den Schutz Quasimodos bitter nötig haben würde…
Sittengemälde des französischen Spätmittelalters
Der historische Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ erblickte bereits 1831 das Licht der Welt. Geschrieben vom Franzosen Victor Hugo (1802 – 1885), aus dessen Feder auch der Klassiker „Die Elenden“ (aka „Les Misérables“) und „Der lachende Mann“ stammt. Letzterer wurde 1928 von Paul Leni als „Der Mann, der lacht“ verfilmt, welcher wiederum Pate beim Design des Batman-Erzfeinds Joker stand. Nach Ballett-, Theater- und Oper-Aufführungen, wurde „Der Glöckner von Notre-Dame“ bereits 1905 zum ersten Mal verfilmt. Vom Kurzfilm „La Esmeralda“ existieren zwar keine Kopien mehr, doch im zwanzigsten Jahrhundert verging kaum ein Jahrzehnt, in dem die Geschichte nicht fürs Fernsehen oder Kino adaptiert wurde. Zu den bekanntesten gehören die Verfilmungen von 1939 (mit Charles Laughton und Maureen O’Hara), 1956 (mit Anthony Quinn und Gina Lollobrigida) sowie die überraschend düstere Zeichentrick-Adaption aus dem Hause Disney von 1996.
Im französischen Original trägt der der Klassiker der Weltliteratur den treffenderen Titel „Notre-Dame de Paris. 1482“. Treffender deshalb, weil Quasimodo nicht zwingend als Hauptfigur gesehen werden kann und nur ein Mosaikstück im umfassenden Sittengemälde jener Zeit darstellt. Dreh- und Angelpunkt ist die betörende Esmeralda, die der einfältigen Männerwelt nur zu leicht die Köpfe verdreht und damit ungewollt tragische Ereignisse auslöst.
Tusche-Traum in schwarz
Angenommen hat sich dieser werkgetreuen Comic-Adaption nun niemand Geringeres als Georges Bess, der schon literarische Schwergewichte wie Bram Stokers „Dracula“ und Mary Shelleys „Frankenstein“ (beide ebenfalls als Prachtausgaben bei SPLITTER erschienen) aufwändig illustrierte. „Der Glöckner von Notre-Dame“ ist da keine Ausnahme, denn die Bilder sehen einfach fantastisch aus. Die Tuschezeichnungen ziehen einen als Leser sofort ins Geschehen. Mal roh und kantig, dann wieder zart und grazil. Stets abgestimmt auf Charakter und Situation. Hier merkt man das Fingerspitzengefühl und die Würdigung der Vorlage in jedem Panel. Selbst wenn Georges Bess mal Mut zur Lücke beweist und Hintergründe einfach mal weiß belässt, empfand ich dies nie als Störfaktor. Er konzentriert sich einfach auf das, was in der jeweiligen Szene hervorstechen soll.
Fazit:
Freundinnen und Freunde klassischer Literatur kommen hier voll auf ihre Kosten. Georges Bess‘ eindringliche Tuschezeichnungen spiegeln den rauen Kern jener Zeit gekonnt wider. Damit reiht sich „Der Glöckner von Notre-Dame“ hervorragend in die Liste bisherigen Literatur-Adaptionen des Künstlers ein.
Victor Hugo, Georges Bess, Georges Bess, Splitter
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