Text:   Zeichner: Ageng

Der freie Vogel fliegt - Mittelschuljahre in China: Band 1

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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonJul 2020

Story

Coming-of-Age im Manhua-Stil. Die Rückblenden sorgen für gelungene Abwechslung und erhöhen die Lese-Freude. Ein toller Auftakt, für dessen Fortsetzungen ich noch ein wenig Luft nach oben lasse.

Zeichnung

Wunderschön! Agengs aufwändige Aquarelle sind einfach ein Fest für Comic-Freunde.

Vielleicht lieber… übermorgen

Was bisher geschah…

Wir befinden uns mitten in den 90er-Jahren des letzten Jahrtausends, wo das Mädchen Lin Xiaolu die Mittelschule besuchte. Und obwohl wir zu Beginn des ersten Bandes quasi mitten ins Geschehen geworfen werden, steht die Geschichte noch ganz am Anfang. Auch, wenn wir durch Rückblenden auf Lin Xiaolus Grundschulzeit mehr über den Teenager der Gegenwart erfahren und ihn somit immer besser kennenlernen.

Lin Xiaolu liebt die Kunst. Das tat sie schon immer. Vornehmlich Manga und deren ausschweifende Fantasy-Welten. Doch sie liebt nicht nur das Lesen, sie zeichnet auch selber pausenlos. Meist bewaffnet mit allen Utensilien, die sie für abenteuerliche Trips in ihre unbändige Fantasie benötigt: Stifte, Malkasten, Zeichenblock. Allerdings litten schon früh ihre schulischen Leistungen unter dem künstlerischen Hobby. Vom strengen Vater und der nicht minder autoritären Lehrerin bereits zum Nichtsnutz abgestempelt, der seine Zukunft eh schon in den Wind geschrieben hatte, kam auch noch die Scheidung der Eltern hinzu. Für Lin Xiaolu war dies kein Beinbruch, da sie das Positive in der Trennung sah. So konnten ihre Eltern jeweils neue Partner kennenlernen, mit denen sie ein glückliches Leben verbringen konnten. Reichlich reif und weit gedacht für ein so junges Mädchen, mag man meinen… doch als Lin Xiaolu dies laut vor der Klasse aussprach, nachdem der Lehrkörper ihre familiäre Situation mit der Bitte auf Rücksicht vor versammelter Mannschaft rausposaunte, erntete sie nicht nur kritische Blicke ihrer Mitschüler, sondern auch deren Spott und Hohn. Sie sei komisch, unnormal… und der eigentliche Grund, warum ihre Eltern sich scheiden ließen. Kein Wunder, dass Lin Xiaolu sich daraufhin weiter verschloss. Sie wurde Fremden gegenüber skeptisch und zurückhaltend. Blieb lieber mit sich und ihrer unbändigen Fantasie allein. So musste sie keine weiteren Ausgrenzungen und Verletzungen mehr erfahren…

Als Lin Xiaolu die Mittelschule besuchte, lebte sie bei ihrem Vater und dessen neuer Partnerin. Ein angespanntes Verhältnis. Der Leistungsdruck in der Schule war enorm und die vernichtende Kritik der Lehrerin nagte noch zusätzlich am angeknacksten Selbstbewusstsein des Mädchens. Sie zog den Schnitt der ganzen Klasse nach unten, was den mürrischen Vater zutiefst beschämte. Nach den Mittelschulabschlussprüfungen kehrte Lin Xiaolus Mutter wieder zurück, die eine längere Zeit auswärts gearbeitet hatte. Doch die Wiedersehensfreude wurde schon bald gedämpft… als die Prüfungsergebnisse bekanntgegeben wurden. Lin Xiaolu hatte die niedrigste Punktzahl der ganzen Klasse. Mit einem völlig zerschossenen Selbstbewusstsein der Tochter, die nun selber begann, an ihrer Zukunft zu zweifeln, und dass sie es mal zu etwas bringen könnte, fasste die Mutter einen spontanen Entschluss: Die künstlerischen Fähigkeiten des Kindes mussten ja zu was gut sein, also warum dieses Talent nicht fördern? Da in Chengdu, Hauptstadt der Provinz Sichuan, eine Berufsschule mit künstlerischem Schwerpunkt Aufnahmeprüfungen ausschrieb und die Mutter dort eine Firma in Aussicht hatte, die sowieso ein Auge auf sie als potentielle Mitarbeiterin geworfen hatte, fiel die Entscheidung leicht… AUF NACH CHENGDU!

Hier geht Lin Xiaolu noch immer zur Schule. Ihren Außenseiter-Status hat sie ebenfalls mit in die neue Heimat genommen und taut nur langsam auf. Und sie hängt auch immer noch mit dem Kopf in den Wolken. Eine allzu irdische Erscheinung katapultiert sie jedoch aus den phantastischen Welten ihrer grenzenlosen Einbildungskraft: Ein Junge, der an einem imposanten Wandbild malt. Wie vom Blitz getroffen, ist Lin Xiaolu nun nicht mehr nur mit dem Kopf in den Wolken, sondern schwebt auch noch auf einer… nummeriert mit einer „7“. Doch ihre eigene Schüchternheit steht dem Mädchen noch gehörig im Weg. Aber dumm ist sie nicht… und wird schon einen Weg finden, um herauszufinden, wer der unbekannte Junge ist.

Gesucht und gefunden

„Der freie Vogel fliegt“ basiert auf dem semi-autobiographischen Roman der Autorin Yale Zu, die unter dem Pseudonym Jidi schreibt. In ihrer chinesischen Heimat veröffentlichte die - selber in Chengdu geborene - Künstlerin im Jahr 2004 ihre erste fortlaufende Manhua-Reihe, mit dem Titel „Mein Weg“. Aktuell auf acht Bände angewachsen – und fortlaufend -, machte diese poetische Reise, die das Schicksal verschiedener Menschen in Episodenform behandelt, sie in ihrer Heimat zum hochgelobten Kritiker-Liebling. Im Gegensatz zu „Der freie Vogel fliegt“ wird „Mein Weg“ (im deutschsprachigen Raum werden alle acht bisher veröffentlichen Bände ebenfalls bei Chinabooks erscheinen) von Jidi als Zeichnerin/Autorin in Personalunion umgesetzt. Für das vorliegende Projekt, welches in sechs Bänden abgeschlossen ist, holte sie sich allerdings künstlerische Verstärkung an die Seite. Jidi suchte eine Zeichnerin… und fand eine Freundin.

Ganze zehn Jahre verschlang die Umsetzung von „Der freie Vogel fliegt“. Zehn Jahre, die Jidi und die angesehene Zeichnerin Ageng, die bürgerlich Pan Liping heißt, eng zusammenschweißten. Die Illustratorin unterrichtet zudem an der Kunsthochschule von Guangxi. In der Provinz, in der sie 1979 geboren wurde. Ebenso wie Jidi, wurde Ageng schon mehrfach für ihre Kunst ausgezeichnet. Verständlich, wenn man sich allein den Auftakt von „Der freie Vogel fliegt“ anschaut…

Noch recht frisch im Manhua-Genre unterwegs, konnte mich der erste Band bereits nach den ersten Illustrationen auf seine Seite ziehen. Zarte Striche und eine enorme Tiefe machen allein das Anschauen zum Hochgenuss. Die Farbverläufe der aufwändigen Aquarell-Kolorierung versprühen jede Menge Charme und Wärme. Das jeweilige Geschehen ist farblich perfekt abgestimmt. Eher grau und erdig im tristen Schulalltag, dessen Druck sich allein beim Lesen überträgt (ohne Witz: Ich schreibe diese Rezension am späten Abend und denke die ganze Zeit, dass ich die Hausaufgaben für Morgen noch nicht gemacht hab!!!), dann wieder strahlend hell und farbenfroh in Lin Xiaolus ausschweifenden Tagträumen. Gepaart mit der sympathischen Geschichte, bin ich hin und weg von der chinesischen Comic-Kunst von Jidi und Ageng.

Leser, die der chinesischen Sprache mächtig sind (und wer ist das nicht?), können „Wenn der freie Vogel fliegt“ auch in der Originalsprache genießen. Die zweite Hälfte des Buches ist dann das gleiche noch mal in Grün… also in Chinesisch.

Das Haar in der (Wan-Tan-)Suppe

Die Übersetzung von Martina Hasse ist durchaus gelungen und es ist sehr vorbildlich, dass man beim Schweizer Verlag Chinabooks noch eine Doppelseite mit Anmerkungen zu kulturellen und pop-kulturellen Begriffen hinzugefügt hat. Ebenso das informative Nachwort von Jidi und Ageng. Die Autorin hat sogar ein zusätzliches, exklusives Nachwort für ihre deutschsprachigen Leser verfasst.

Einen Kritikpunkt hätte ich aber: Dass der Text mal sehr gequetscht in den Sprechblasen wirkt und an anderer Stelle in der Bubble ersäuft und noch deutlich mehr reingepasst hätte, kann man niemandem vorwerfen. Dazu sind die Sprach- und Textunterschiede einfach zu groß, was auch zu verschmerzen ist. Ärgerlich ist nur, dass mancher Text so extrem kleingeschrieben ist, dass es enorm anstrengt. Hinzu kommt, dass schwarze Schrift auf dunkelblauem Grund nur bedingt funktioniert. An einigen Stellen komischerweise besser gelöst, indem weiße Schrift genutzt wird. Hier hätte ich mir durchgängig eine leser-freundliche Einfärbung gewünscht.

Fazit:

Eine Geschichte, die sich vielleicht im ersten Moment schlicht anhören mag, verhilft dem Coming-of-Age-Genre durch geschickte Rückblenden zu einem regelrechten Höhenflug. DAS kommt dabei raus, wenn man mal in ungewohnten Gefilden stöbert und sich unvoreingenommen auf was Neues einlässt: Eine RIESIGE Überraschung!

Der freie Vogel fliegt - Mittelschuljahre in China: Band 1

Jidi, Ageng, Chinabooks

Der freie Vogel fliegt - Mittelschuljahre in China: Band 1

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