Töten… mit „Anstand“
Das muss ich erstmal sacken lassen…
…denn „Decorum“ hat mich wie eine Lawine überrollt. Nicht nur das. Ich wurde überrollt, überfordert, geflasht, erheitert und mit grandiosem Artwork torpediert. Und das im stetigen Wechsel. Um in die Story hineinzukommen, brauchte ich etwas Zeit. Da macht es einem „Decorum“ zumindest anfangs nicht gerade leicht. Kryptisch verschachtelt, geheimnisvoll und dezent zurückhaltend, was den eigentlichen Plot betrifft. Aber wie gesagt, nur anfangs. Ist man einmal mittendrin im Geschehen, lässt einen der Band nicht mehr los. Das hat gleich mehrere Gründe, doch zuerst ein paar Worte zur (nicht gerade einfach zu erklärenden) Story:
Wir folgen zwei Handlungssträngen. Im ersten, komplexeren Strang machen wir Bekanntschaft mit den himmlischen Müttern, die durch Zeit und Raum reisen und den wohl begehrtesten Gegenstand im Universum beschützen: ein Ei. Dieses wird gejagt von der Kirche der Singularität, einer mächtigen künstlichen Intelligenz. Und der Inhalt des Eis übersteigt jedes Vorstellungsvermögen.
Bevor wird aber jede Grenze sprengen, machen wir die Bekanntschaft mit Neha Nori Sood, einer jungen Kurierin, die nicht gerade auf den Mund gefallen ist und für Kohle jeden zwielichtigen Job annimmt, der lukrativ erscheint. Bei einem dieser Liefer-Jobs platzt sie in ein denkbar ungünstiges Szenario. Die mit allen Wassern gewaschene Assassine Imogen Smith-Morley geht dem nach, was sie am besten kann, bläst Unterwelt-Gesocks über den Haufen und nimmt die mit der Situation überforderte Neha kurzerhand unter ihre Fittiche. Bei der sogenannten Schwesternschaft der Menschen soll sie eine knallharte Ausbildung absolvieren, um zu einer ebenso knallharten Auftragsmörderin trainiert zu werden. Nicht leicht für jemanden, der sich ungern an Regeln hält und seine auf gute Manieren bedachte Mentorin damit gerne mal auf die Palme treibt.
Und dann ist ja da auch noch die Sache mit dem Ei… Wie die Story um Neha und Imogen sich mit den Geschehnissen um künstliche Intelligenzen, himmlischen Müttern und sogar Göttern kreuzt, soll an dieser Stelle natürlich nicht vorweggenommen werden. Das muss jeder für sich entdecken… ach, was sage ich da, das muss man ERLEBEN!
One-Man-Show
Kaum zu glauben, aber die Zeichnungen in „Decorum“ gehen allein auf das Konto des US-Amerikaners Mike Huddleston. Warum? Ist doch keine Seltenheit, dass EIN Künstler ein ganzes Werk im Alleingang illustriert. Eher Gang und Gäbe. Absolut richtig, aber ungewöhnlich ist, dass ein Zeichner für die Darstellung gleich mehrere unterschiedliche Stile nutzt. Huddleston kombiniert diese sogar, was auf den ersten Blick vielleicht gewöhnungsbedürftig erscheint, im Gesamtbild jedoch hervorragend funktioniert. Hastige und farblose Skizzen mischen sich mit fantastisch kolorierten Zeichnungen, bei denen jeder Strich sitzt. Dann mal zarte Bleistift-Illustrationen, bevor eine epische Doppelseite mit Gemälde-Charakter daherkommt. „Decorum“ als graphische Wundertüte zu bezeichnen, wäre deshalb noch stark untertrieben. Es ist eher ein Gesamtkunstwerk, dessen volle Schönheit sich einem erst offenbart, wenn man sich selbst durch diesen Ausnahme-Comic gewühlt hat. Wie bereits gesagt, dass Ding ist eine rollende Lawine, der man sich so schnell nicht mehr entziehen kann, hat sie einen erstmal gestreift.
Mut zu(r) Lücke(n)
Um eine komplexe Welt, wie die in „Decorum, glaubhaft darzustellen, bräuchten die meisten Autoren wahrscheinlich mehr als acht Comic-Hefte. Viel mehr umfasste die IMAGE-Mini-Serie, die von 2020 bis 2021 erschien, nämlich nicht. Da ist es komplett dem kongenialen Duo Jonathan Hickmann und Mike Huddleston zu verdanken, dass wir uns nicht ständig fragen, wo, wie, warum und wann wir uns gerade an einem bestimmten Punkt befinden. Diagramme, Texttafeln und Sternenkarten versorgen uns mit dem nötigen Rahmen, um uns in der verwirrenden Zukunft zurechtzufinden. Wir blättern uns durch zahlreiche Seiten, von denen einige nur mit kryptischen Symbolen und stylishen Design-Elementen versehen sind, weshalb der Umfang von 408 extrem hochwertigen Seiten nicht verwundern sollte. Bonusmaterial in Form von ganz- und doppelseitigen Cover-Artworks der US-Einzelhefte inklusive. Trotz der zahlreichen Erklär-Unterbrechungen fällt es erstaunlich leicht, nicht den roten Faden zu verlieren. An die Fakten-Bombardierung gewöhnt man sich recht zügig, womit es zunehmend einfacher wird, der soghaften Story zu verfallen.
Das Worldbuilding ist also informativ integriert und wird nicht in ellenlangen Ausmaßen in Comic-Form durchgeprügelt. Bei den Hauptfiguren sieht es da freilich anders aus. Die müssen vorgestellt und möglichst interessant geschrieben sein, damit sich eine glaubhafte Dynamik zwischen ihnen – und im Idealfall eine Bindung zu den Leserinnen und Lesern – entwickeln kann. Auch hier hat das Autor/Künstler-Duo Hickman und Huddleston alle richtigen Knöpfe gedrückt. Die rotzige Neha Nori Sood, die um keinen frechen Spruch verlegen ist und zu Tritten ins Fettnäpfchen neigt, sowie die elegante Meister-Attentäterin Imogen Smith-Morley, die eiskalt als mordende Femme fatale mit Wert auf gute Manieren und Anstand agiert, harmonieren perfekt, obwohl sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Daraus ergeben sich zum Teil herrlich skurril-komische Situationen und diverse Running Gags. Die Montage mit Nehas dreijähriger Ausbildung, in der wir in bester Film-Manier ihre Fortschritte anhand Wiederholungen diverser Situationen nachverfolgen können, gehören zu den humoristischen Highlights in dieser ansonsten oft philosophisch angehauchten Spaceopera. An Action und ein paar deftigen Passagen wird aber ebenfalls nicht gespart.
„Decorum“ ist als üppiges Hardcover im A4-Format bei CROSS CULT erschienen. Ein ordentlich schwerer Brocken, was für die hohe Qualität des Bandes spricht. Neben einem Lesebändchen verfügt der Einzelband noch über einen toll gestalteten Schutzumschlag, was man auch nicht mehr alle Tage sieht. Zwar nicht für einen gerade schmalen Taler zu haben, ist „Decorum“ aber jeden einzelnen Euro wert. Eine tiefgründige Story mit großartig geschriebenen Charakteren und Bilder, in denen man sich verlieren kann. Ein Fest für Sci-Fi-Fans und Liebhaber abwechslungsreicher Kunst-Stile.
Fazit:
„Decorum“ liefert Storytelling auf höchstem Niveau, ist anspruchsvoll, aber ebenso unterhaltsam. Dazu das meisterhafte Artwork von Mike Huddleston, der gleich mehrere Zeichenstile kombiniert und so einen einzigartigen Look erschafft. Ein Wahnsinns-Band, der jedem Freund epischer Science-Fiction-Geschichten die Schuhe ausziehen wird.
Jonathan Hickman, Mike Huddleston, Cross Cult
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