Deutsch-deutsches Schicksalsspiel
Flucht ins Abseits
8. Mai 1945: Der Tag, an dem die bedingungslose Kapitulation gegenüber den alliierten Streitkräften in Kraft trat. Das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Während die russischen Truppen in Berlin eintrafen, wo noch vereinzelte Gefechte stattfanden, irrten die beiden Brüder Konrad und Andreas Werner durch die zerbombten Trümmer unserer heutigen Hauptstadt. Erschöpft und von den chaotischen Zuständen vor Ort überfordert, wollten sie nur noch weg aus Berlin. Noch nicht ahnend, dass ihre jüdischen Eltern den Tod in deutschen Konzentrationslagern fanden, ließen die Brüder ihre zerstörte Heimat hinter sich. Es ergab sich eine Mitfahrgelegenheit nach Leipzig, wo die Werners sich dann auch niederließen.
Acht Jahre später wohnten sie noch immer zusammen und versuchten sich mit allen Mitteln über Wasser zu halten. Jeden Tag war es ein neuer Kampf, um etwas Nahrhaftes auf den Teller zu kriegen. Das Durchsuchen des Mülls oder Tauschgeschäfte gegen Altglas waren da keine Seltenheit. Und stets hielt Konrad die schützende Hand über den jüngeren Andreas. So auch, als Andreas erkrankte und mit steigendem Fieber dringend medizinische Hilfe benötigte. Ein schicksalhafter Tag, denn als der große Bruder in einer geplünderten Apotheke nach Medizin suchte, wurde er auf frischer Tat von der Staatssicherheit ertappt und in Gewahrsam genommen. Mehr als drei Wochen wurde Konrad in der Justizvollzugsanstalt festgesetzt und kam nur wieder auf freien Fuß, weil er ein Angebot wahrnahm, welches er nicht ablehnen konnte…
Der befehlshabende Oberst rekrutierte ihn für die Stasi, da Konrad Andreas wohl sonst nie mehr zu Gesicht bekommen hätte und dieser sich selbst überlassen gewesen wäre. Womöglich in einer polnischen Besserungsanstalt, wie Oberst Gronau bereits androhte. So begannen die Werner-Brüder ihre Ausbildung. Natürlich ganz unten auf der Karriereleiter, aber wenigstens waren sie zusammen… noch.
Im Dezember 1961, nach ihrer erfolgreichen Ausbildung und der Teilung Deutschlands durch die Mauer, sollten Konrad und Andreas einen Routine-Auftrag in Rostock ausführen. Einen ehemaligen Obersturmführer aus dem Konzentrationslager Ravensbrück festsetzen, der dann vor Gericht gestellt werden sollte. Der Mann widersetzte sich jedoch und ergriff die Flucht. Von Rache getrieben erschoss Andreas den Flüchtigen, was ihm drei Monate Einzelhaft einbrachte. Von diesem Zeitpunkt an wurde alles anders.
Brüder im Aus
Nach seiner Inhaftierung wurden Andreas und Konrad getrennt. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Oberst Gronau hatte Konrad in den Westen versetzt, wo er als Maulwurf operieren sollte. Andreas wurde hingegen in die ostdeutsche Leichtathletik-Mannschaft eingeschleust, wo er als Physiotherapeut die Sportler ausspionieren sollte, bevor diese auf dumme Gedanken kämen und die EM in Belgrad womöglich für eine Flucht in den Westen nutzen könnten.
Heute… 1974: Es ist das Jahr der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land und heißer als ein mögliches Finale (wir alle wissen ja, wie es ausging… wer es nicht weiß, möge nochmals Nachhilfe bei den Sportfreunden Stiller nehmen, die sich ihren Song-Titel ja nicht ohne Grund aus dem Kreuz geleiert haben), wird das letzte Spiel der Gruppe I erwartet. Nachdem man Chile und Australien nämlich schon von der Platte geputzt hatte, soll nun auch der entfernte Bruder auf dem Weg zum Gruppensieg zurück über die Mauer gekickt werden. Ein Spiel, auf das die ganze Welt gebannt schaut. Konrad, der mittlerweile verheiratet ist und mit Gattin und zwei Söhnen im schönen Hamburg lebt, spitzelt die Nationalmannschaft der BRD als getarnter Betreuer aus. Auf der Gegenseite sammelt Andreas als Physiotherapeut des ostdeutschen Teams Informationen und versorgt das Stasi-Hauptquartier mit Schweißproben der Spieler, um sie nach eventuellen Fluchtversuchen durch speziell trainierte Hunde wieder aufzuspüren. Noch ahnt keiner der beiden, dass sie sich näher sind als sie es seit Jahren waren. Und in Andreas wachsen erstmals Zweifel am sozialistischen Regime unter Erich Honecker…
Der Kaiser gegen den Rebellen aus Kolbermoor
Was sich anhört wie ein launiger Krimi aus der Feder von Edgar Wallace, beschreibt eher den Kleinkrieg zwischen Franz Beckenbauer und seinem damaligen Abwehr-Kollegen Paul Breitner. Zwischen den beiden Alpha-Hitzköpfen hat es öfter mal gerumst, was in „Das Spiel der Brüder Werner“ auch ausgiebig thematisiert wird. Bundestrainer Helmut Schön, Berti Vogts und natürlich auch DDR-Nationalspieler Jürgen Sparwasser, der nicht nur einige wichtige Rolle in der Geschichte spielt, kommen ebenfalls zum Zug. Dabei sind die ehemaligen Spieler ihren realen Vorbildern der 70er fast aus dem Gesicht geschnitten. Und nicht nur bei den Charakteren kann man Zeichner Sébastien Goethals über den Klee loben. In jeder gezeigten Epoche fängt er die Stimmung perfekt ein. Von den Trümmern in Berlin, über das karge Nachkriegs-Leipzig, bis hin zur Hansestadt der 70er-Jahre. Speziell dort hat Goethals blendend recherchiert. Kleidung, Ausstattung und Frisuren (allein für Paule Breitners Haarpracht dürfte das eine oder andere Tusche-Fässchen draufgegangen sein…) sind allesamt auf den Punkt. Wäre ich nicht erst ’79 geboren, würde ich sagen, dass es sich wie eine Reise in die Kindheit angefühlt hat… aber das mögen andere entscheiden. Jedenfalls sind der Look und das aufwändige Drumherum sehr beeindruckend zu Papier gebracht.
Auch farblich wurde alles richtig gemacht. Hier hat Sébastien Goethals zusammen mit Horne Perreard gearbeitet. Gemeinsam tauchten sie die Bilder in blasse Sepia-Töne. Mal mit Gelb-, Grün-, Blau- oder Rotstich versehen, was für Abwechslung sorgt und sich anfühlt, als würde man ein altes Fotoalbum durchblättern. Sonst wurde auf Farbe verzichtet, was man nur begrüßen kann. Dafür verstärkt Goethals seine feinen Striche mit großzügigen Schattierungen, was Tiefe und Kontrast verleiht.
Elfmeter ohne Torwart
Der französische Autor Philippe Collin, der gemeinsam mit Zeichner Sébastien Goethals schon am hochgelobten Comic „Die Reise des Marcel Grob“ (Splitter) arbeitete und selbst Journalist und Historiker ist, hat mit „Das Spiel der Brüder Werner“ eine überraschend spannende und intensive Geschichtsstunde abgeliefert. Wo eine nicht übersehbare Mauer ein ganzes Land teilte, steht diese auch metaphorisch zwischen den gespaltenen Ideologien der Werner-Brüder, die im Laufe der Jahre immer deutlicher in den Vordergrund treten. Das ganze Geschehen dann vor der Kulisse eines historischen Fußballspiels, das als dramatischer Höhepunkt dient, und die Intensität im Hintergrund nicht überstrahlt, sondern nur untermalt. Die dichte Erzählweise bleibt somit auf konstant hohem Niveau und spitzt sich immer mehr zu. Mir würde keine Seite in „Das Spiel der Brüder Werner“ einfallen, auf die ich hätte verzichten wollen.
Als Bonus gibt es noch einen textlastigen Abriss vom Historiker und Universitäts-Professor Fabien Archambault. „Dreißig Jahre Deutsch-deutsche Geschichte“ erzählt vom Sturz des Naziregimes bis zum legendären Länderspiel des geteilten Deutschlands. Dazu gibt es einige Archiv-Bilder des Aufeinandertreffens zwischen BRD und DDR, sowie kurze Biografien der Künstler, bibliografische Angaben zur geschichtlichen Aufarbeitung und einen kleinen Blick hinter die Kulissen.
Fazit vom Spielfeldrand:
Eine fiktionale Geschichte vor realem Hintergrund, die keineswegs nur Fußball-Freunden zu empfehlen ist. Sowohl der Ost-West- als auch der Brüder-Konflikt ist spannend inszeniert und hat einige Überraschungen parat. Packender als das Gruppenspiel DDR vs. BRD im Jahr 1974. Das wenig-aussagekräftige Cover täuscht hier gewaltig, da sich dahinter eine wahre Perle im Comic-Jahr 2020 verbirgt.
Philippe Collin, Sébastien Goethals, Splitter
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