Das Nest (Gesamtausgabe 1)

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Nina Pimentel Lechthoff
9101

Comic-Couch Rezension vonMär 2021

Story

Angenehm ruhige Geschichten, die trotzdem sehr kraftvoll sind. Es geht um Zugehörigkeit zur Gemeinschaft, aber gleichzeitig darum, sich aus dieser zu emanzipieren. Nur, dass der tote Mann der Protagonistin als Erzähler fungiert – und dazu noch mal da ist, mal nicht – hat mich etwas aus dem Konzept gebracht.

Zeichnung

Obwohl hier zwei gestandene Künstler am Werk sind, schaffen sie es, gut miteinander zu arbeiten und einen Zeichenstil zu entwickeln, der wunderbar zu der Geschichte passt, die sie erzählen. Ich war vor allem von den Details in den Zeichnungen fasziniert.

Zeitreise nach Kanada

Das Nest Notre-Dame-des-Lacs

Marie ist frisch verwitwet. Viel Zeit für Trauern oder ähnliches hat sie aber nicht, denn ihr Mann hatte den einzigen Laden des kleinen Dorfs in der kanadischen Provinz geführt. Nun muss sie sich um den Laden – und um die Bedürfnisse der Dorfbewohner – kümmern. Wie etwa einen verletzen jungen Mann ins nächstgelegte Dorf zum Arzt bringen. Obwohl ihr Mann Marie seinen Truck vererbt hat, könnte die Sache schwierig werden: Marie kann nämlich nicht Auto fahren.

Viele solcher kleinen Geschichten rund um die Dorfbewohner von Notre-Dame-des-Lacs, einem fiktiven Dorf in Québec der 1920er Jahre, versammelt die Graphic Novel „Das Nest“. Zwischen 2006 und 2014 haben die Comic-Künstler Régis Loisel und Jean-Louis Tripp ihr Comic-Epos veröffentlicht, jetzt bringt Carlsen diese Geschichten in drei Sammelbände heraus. Im ersten Band der Gesamtausgabe lernen wir die verschiedenen Bewohnerinnen und Bewohnern von Notre-Dame-des-Lacs kennen und wie das Dorfleben bis vor Kurzem funktioniert hat. „Bis vor Kurzem“, denn mit der Ankunft des mysteriösen, aber herzlichen Fremden Serge gerät das Leben – und vor allem das Zusammenleben – in dem kleinen kanadischen Dorf gehörig durcheinander.

Der Gemischtwarenladen

Auch wenn der erste Band der Gesamtausgabe von „Das Nest“ die Geschichte vieler Figuren erzählt, bleibt der Fokus auf Marie und ihrem Gemischtwarenladen – wie die Graphic Novel im Original heißt („Magasin général“). Durch diesen Ankerpunkt kann man als Leser den Überblick über die unzähligen Figuren und Handlungsstränge behalten. Trotzdem habe ich mich oft dabei ertappt, wie ich in der Graphic Novel rumgeblättert habe, da ich die eine oder andere Figur nicht mehr so recht einordnen konnte.

Marie und Serge – nach seiner Ankunft gewährt Marie dem Fremden in ihrem Schuppen Unterschlupf – bilden ein starkes Protagonisten-Duo. Man merkt sehr früh, dass sich zwischen den beiden etwas anbahnt, was aber von Maries Schuldgefühlen ihrem toten Ehemann gegenüber und dem Tratsch der Dorfbewohner lange unter Verschluss bleiben muss. Außerhalb ihrer Beziehung zueinander müssen Marie und Serge ihren Platz in der Dorfgemeinde erkämpfen. Der Neuankömmling Serge ist anders als die anderen Männer. Während die Männer des Dorfs Bauern oder ehemalige Holzfäller sind, stammt Serge aus der Großstadt und ist leidenschaftlicher Koch. Seine für die Dorfbewohner unbekannte Art von Männlichkeit macht Serge erst zu einem Außenseiter. Trotzdem lässt sich Serge nicht unterkriegen und gliedert sich nach und nach in die Gemeinde ein.

Marie muss sich auch ihren neuen Platz in der Gemeinde erkämpfen. Sie fühlt sich auch als Fremde in Notre-Dame-des-Lacs, denn sie ist in diese Gemeinde eingeheiratet worden. Da ihr Mann aber jetzt tot ist, fühlt Marie sich zunehmend fremd im Dorf. Doch sie kämpft für ihren Gemischtwarenladen und zeigt allen dadurch, dass sie auch als Frau eine wichtige Stellung innerhalb der Dorfgemeinschaft einnehmen kann. Dieser Kampf um Emanzipation und Zugehörigkeit wird vor allem durch das Autofahren repräsentiert. Obwohl sie anfangs Angst davor hat, den Truck ihres verstorbenen Mannes zu fahren, traut sich Marie immer mehr das Autofahren zu – was sie wiederrum dazu ermuntert, in anderen Lebenssituationen mehr Mut zu fassen.

Der Geist im Hintergrund

Auch wenn „Das Nest“ viele kleine Geschichten in sich vereint und es mir manchmal schwergefallen ist, mit den ganzen Figuren und Namen nicht durcheinander zu kommen, hat mir die Lektüre sehr viel Spaß gemacht. Das Einzige aber, das ich nicht verstanden habe, ist, warum Félix, Maries toter Ehemann, als Erzähler herhalten musste. Als Figur ist er einem vollkommen fremd – und ganz ehrlich, ist er nicht gerade sympathisch. Er taucht immer mal wieder als Erzählerstimme im Hintergrund auf und kommentiert das Geschehen aus der Entfernung. Nur um dann wieder für eine sehr lange Weile einfach zu verschwinden. Ich habe die Logik hinter seinen plötzlichen Erscheinungen nicht so recht begriffen, für mich waren diese Erzähler-Parts etwas verwirrend und haben für mich nicht viel zur Handlung beigetragen.

Langsame Bilder für langsame Geschichten

Die Autoren Loisel und Tripp haben nicht nur die Geschichte von „Das Nest“ gemeinsam geschrieben, auch die Bilder sind in Zusammenarbeit entstanden: Loisel lieferte die Vorzeichnungen, Tripp war für Licht, Schatten und Konturen verantwortlich – die Farben stammen von François Lapierre. Aber auch wenn hier zwei Künstler parallel am Werk waren, ergibt sich am Ende ein stimmiges Gesamtbild.

Die Panels und Seiten sind angenehm ruhig gestaltet, was sehr gut zu den ebenso ruhigen Geschichten passt. Keine Frage, auch in einem kleinen Dorf in den 1920ern gibt es heikle Situationen und manchmal fließt etwas Blut, trotzdem bleibt der Band angenehm unspektakulär.

Sehr spektakulär ist hingegen der Detailreichtum der Bilder. Auf jeder Seite, ja, in jedem Panel gibt es jede Menge zu entdecken. Seien es die Tiere, die im Bauernhof umherstreunen, die Kinder, die nach der Messe vor der Kirche herumturnen oder die Menschen, die vor Maries Laden spazieren – die Bilder von Loisel und Tripp sind voller kleiner Details. Sogar die Jahreszeiten sind mit solch einer Liebe zum Detail gezeichnet, dass ich mir am liebsten die Seiten im Posterformat angucken würde.

Auch die Art und Weise, wie die beiden Künstler ihre Figuren zeichnen, finde ich sehr angenehm. Jede hat ihre Eigenarten, die sehr überzeichnet sind. Marie bspw. hat eine lange, schmale Nase und ein fliehendes Kinn. Dadurch sieht ihr Kopf sehr rund aus. Serge hingegen hat einen eckigen Kopf und abstehende Ohren. Unter seiner dicken Nase trägt er einen geschwungenen Schnauzbart, der ihn sehr französisch aussehen lässt.

Fazit:

Der erste Band der Gesamtausgabe von „Das Nest“ ist sehr angenehm zu lesen. Viel Spannung und Action sollte man nicht erwarten. Loisel und Tripp erzählen aus dem Alltag der Menschen eines kleinen (fiktiven) Dorfs in Kanada. Manche der Figuren sind sympathisch, manche weniger. Aber trotzdem schließt man diese kleine Gemeinde schnell ins Herz und freut sich über die kleinen Errungenschaften, die sie erzielen – und könnte bitterlich weinen, wenn etwas Schreckliches passiert. Der Zeichenstil von „Das Nest“ ist ähnlich ruhig und passt somit sehr gut zur Geschichte.

Das Nest (Gesamtausgabe 1)

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