Heile die Erde, welche die Engel verdorben haben…
Wie man sich sein eigenes Grab schaufelt
Die Menschen, die zuerst die Erde bevölkerten, liebten und vermehrten sich. Gebaren Kinder, die heranwuchsen zu lieblichen Töchtern. Als die Engel diese erblickten, war es um sie geschehen. Sie begehrten deren Schönheit und stiegen hinab aus dem Himmelsreich. Zweihundert göttliche Gestalten wurden von ihren Gefühlen übermannt und zeugten Kinder mit den menschlichen Frauen. Mit weitreichenden Folgen. Die Frauen gebaren Riesen. Riesen mit unmenschlichem Appetit. 3000 Ellen groß (umgerechnet also… ääääh… ziemlich groß!) und unersättlich, hatten die Kinder der göttlich-menschlichen Unzucht bald alle Vorräte aufgebraucht und wandten sich gegen die Spezies der mütterlichen Seite ihres unnatürlichen Stammbaums. Ja, sie aßen die Menschen, doch auch diese waren ihnen nicht genug. Flora und Fauna wurden geplündert, mit Blut literweise hinuntergespült. Schon längt die Grenzen des Kannibalismus ausgelotet, standen die Abtrünnigen des Himmels als Nächste auf der Speisekarte. Gott selbst war erzürnt. So sehr, dass er die Engel aus seinem Reich verbannte und die Riesen durch eine gewaltige Sintflut vom Erdball tilgen wollte. Als Vermittler sollte der in den Himmel entrückte Henoch fungieren, doch flehende Gnadengesuche verstummten im Nichts. Bezaliel, der 13. Wächter der 20 Anführer der 200 gefallenen Engel, wusste, dass der Schöpfer rachsüchtig und unnachgiebig war, hatte er erst einmal einen Entschluss gefasst. Doch er wusste auch, dass die Gefallenen endlos waren… und ihre Zeit irgendwann kommen würde.
Benachteiligt und gesegnet
Das Hier und Jetzt. Irgendwo im Nirgendwo. Ein kleines Kaff namens Brimount. Hierher hat es Lindsay Taylor verschlagen. Sie ist auf der Suche nach ihrem Sohn Conor, der vor fünf Jahren plötzlich wie vom Erdboden verschluckt wurde. Der Neunjährige verschwand aus dem Auto der Familie, als diese auf einem Rastplatz Halt machte. Seitdem gab es kein Lebenszeichen von dem Jungen. Bis jetzt…
Die ermittelnden Behörden standen vor einem Rätsel, stellten die Suche schließlich ein. Nicht jedoch Lindsay. Sie suchte auf eigene Faust weiter… zu einem hohen Preis. Ihr eiserner Wille kostete sie ihren Job als Polizistin und ihre Ehe. Ein anonymer Anruf beflügelte sie jedoch. Alte Polizei-Kontakte waren hilfreich und konnten die Nummer ausfindig machen, was sie nun in die Kleinstadt Brimount führt. Erste Anlaufstelle ist das Büro vom örtlichen Sheriff. Der Beamte erweist sich als hilfreich und begleitet die hoffnungsvolle Mutter zum ländlichen Anwesen eines gewissen Mark Phillips. Der ist zwar nicht anwesend, doch dessen Tochter Daisy hält gerade eine ihrer bekannten Bibelstunden für die Kinder der Umgebung ab. Daisy weiß genau, wer sie dort besucht. Und sie ist auch kein normaler Teenager. Daisy misst weit über zwei Meter und ist damit nicht nur gemessen an der Körperhöhe der gleichaltrigen Kids eine… Riesin. Das Mädchen kommt gerade noch dazu, Lindsay zu warnen, dass sie nicht hätte kommen sollen, dann blickt die überrumpelte Frau auch schon in den Lauf der Pistole des Sheriffs. Ein mark- und knochendurchdringender Knall, dann reißt es Lindsay zu Boden. Leblos schlägt sie auf.
Als sie die Augen wieder aufschlägt, erblickt sie Daisy, die ihr eröffnet, dass sie vom Göttlichen berührt wurde. So musste es sein, so war es vorbestimmt. Ebenso, wie Daisys Weg vorbestimmt ist…
Bibelfest? Aber sicher doch!
Nun ja… nicht wirklich. Als jemand, der es mit dem Glauben nicht so hat und vermutlich das letzte Mal bewusst eine Bibel im Konfirmandenunterricht in Händen hielt, als er in einem Anfall pubertärer Unbedarftheit „Das erste Buch Mose“ umbenannte, indem er zwei Punkte über das „o“ kritzelte, brauchte es tatsächlich einen Colin Lorimer, bis ich mich mal bewusst in den biblischen Stoff stürzte. Genauer gesagt in Stoff, der noch nicht mal in den Kanon christlicher Kirchen aufgenommen wurde. Lorimer, Zeichner und Autor von „Daisy“, orientiert sich am „Buch Henoch“. Spezifischer dessen erste Kapitel, zusammengefasst als „Das Buch der Wächter“. Durchaus spannend und wie gemacht für eine Symbiose von apokalyptischen Schriften mit gegenwärtigem Horror. Colin Lorimer hat sich durchaus Gedanken gemacht und den Stoff mit textlichen und bildlichen Bezügen grandios umgesetzt.
Nach dem ersten Lesedurchgang ging ich mit dem guten Henoch etwas auf Tuchfühlung und machte mich zusätzlich mit Bezaliel und seinen Co-Engeln vertraut. Dann nahm ich „Daisy“ nochmals zur Hand und verschlang das Buch erneut. Erst da hat es mich so richtig gepackt, da mit dem rasch angehäuften Laien-Wissen Lorimers akribische Detailverliebtheit durchblitzte. „Daisy“ drückt einem beim Lesen die Antworten nicht vorgekaut in den Schlund, sondern erzählt sich viel durch Bildsprache. Auch hier liefert der nordirische Künstler mit Illustrationen ab, die haften bleiben. Die Kolorierung von Joana Lafuente (mit Anita Vu) gleitet fließend von erdigen Tönen in einen apokalyptisch-rostigen Look, womit sich die Ebenen optisch voneinander abgrenzen, jedoch nicht abrupt eingeschoben erscheinen.
Fazit:
Kryptisch und geheimnisvoll. Colin Lorimer streut die Brotkrumen bewusst und sorgfältig. Als Leser muss man schon mitarbeiten, doch trotz viel Geheimniskrämerei lädt die packende Geschichte ein, sich mehr mit den Hintergründen und ihrer Inspirationsquelle zu befassen. Kein Comic von der Stange, sondern ein wunderbares Werk mit Wucht, das dazu auch noch „göttlich“ aussieht.
Colin Lorimer, Colin Lorimer, Cross Cult
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