High-Life
Einmal Hölle und zurück
Lehrjahre sind keine Herrenjahre, sagt man… doch auch die Schulzeit sollte man nicht außer Acht lassen und keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen. Für Dominik fing der Ernst des Lebens mit dem Wechsel auf die Hauptschule an. Als kleinster und schmächtigster Schüler hat man dort keinen leichten Stand, was er auch auf die harte Tour lernt. Als der Sohn eines Nürnberger Autovermieters dann durch das kuppelförmige Glasdach einer Gartenlaube kracht, sieht es zappenduster für den Jungen aus. Innenohrabriss, Trommelfell im Arsch und gleich mehrfache Schädelfrakturen. Ein simples >Autsch< wäre da weit untertrieben. Vor allem, weil der behandelnde Arzt im besten Falle bleibende Schäden prognostiziert. Doch entgegen aller Erwartungen erholt Domi sich besser als gedacht. Bald ist er wieder so fit, dass er seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen kann: Fußball. Hier kann er sich richtig auspowern und zugleich abschalten. Die Hänseleien und körperlichen Auseinandersetzungen im Schulalltag ausblenden. Den Stress, den er in sich hineingefressen hat, um seine Eltern nicht weiter zu belasten, kanalisieren. Domis Mutter hat nämlich seit seinem Unfall eine schwere Angststörung entwickelt, die wie eine dunkle Wolke über der Familie schwebt, und nicht nur sie lähmt. Das nächste Unheil lässt aber nicht lange auf sich warten: Ausgerechnet beim ausgelassenen Bolzen auf vereistem Grund rutscht der Junge derart aus, dass Fußball für immer abgepfiffen wird. Rote Karte vom Doc, ab auf die Bank. Dauerhaft. Scheiße.
Dennoch erreicht Dominik sein Ziel und schafft den Abschluss. Und mit dem letzten Schultag verabschiedet sich Domi auch von seinem alten Ich. Neue Frisur, coole Klamotten und mit frisch gestärktem Selbstbewusstsein geht es in die Jugendfreizeit nach Italien! Erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, neue Freunde und jede Menge Spaß. Doch jeder schöne Urlaub endet mal und der Alltag hält wieder Einzug. Zuerst läuft dieser auch (fast) wie geplant… bis auf den kleinen Irrweg mit der Kochlehre. Nachdem dieses Kapitel aber schneller aus der Welt ist, als es in sie hineintrat, fängt er eine kaufmännische Lehre in der Autovermietung seines Dads an. An seinem 17. Geburtstag macht Dominik dann erste Alkoholerfahrungen. Schließlich ist er ja jetzt erwachsen… zumindest hält er sich dafür.
Die Wochenenden laufen immer gleich ab: Party, Party, Party… Vollrausch. Kritisch wird es, als Domi in eine Russen-Clique reingrätscht. Die Exzesse häufen sich: Hasch, Besäufnisse am helllichten Tag und eine Leck-mich-am-Arsch-Einstellung, die nicht nur seiner Freundin auf den Sack geht. Nach der Russen-Phase hat er Blut geleckt. Will nicht nur Teil einer Gang sein, sondern eine anführen. Kiffen reicht nicht mehr… Es wird Speed gezogen, dass sich die Balken biegen. Ecstasy und Pilze. Halluzinogene Trips dank Engelstrompeten. Das volle Programm. Damit hat Dominik einen selbstzerstörerischen Weg eingeschlagen… auf unbekanntem Terrain… ohne Straßenkarte oder GoogleMaps. Ach ja, und dann kommt die Dealerei, die den Abgrund ohne Boden erst so richtig aufreißt… vor allem, wenn man selbst sein bester Kunde ist.
„Now the drugs don’t work. They just make you worse…“
-Richard Ashcroft (THE VERVE)
Wir sind uns (hoffentlich) einig, dass der Griff zu bewusstseinserweiternden Substanzen als fahrlässige Zerstörung am eigenen Körper zählt. Damit meine ich nicht zwingend Alkohol oder Zigaretten, die zwar als „Genussmittel“ gelten, aber selbstverständlich ebenfalls irreparable Schäden hervorrufen können. Auch nicht ärztlich verordnete Psychopharmaka, die Leiden lindern und im Idealfall einen heilenden Effekt haben. Ich spreche bewusst von illegalen Substanzen. Substanzen, die in gewissen Nachbarländern vielleicht legal sind, jedoch bei schwachen oder leicht beeinflussbaren Konsumenten den Start für eine Reise ohne Wiederkehr sein können. Heute steht noch die Bong auf dem Tisch, morgen dann Schneereste auf dem Taschenspiegel, nächste Woche finden sie dich mit der Spritze im Arm, die du dir übermorgen selber zitternd in die Vene jagen wirst.
Über den Durst getrunken haben wir mit Sicherheit alle mal einen… oder zwei… oder drei. Im besten Falle lernt man aus dem Hangover, der einem nach einer ordentlichen Tour noch für rund zwei Tage in den Schlappen steckt. Aus Schaden lernt man, Versuch macht klug… bla, bla, bla. Ich erinnere mich noch an die Großraum-Diskotheken der späten 90er, wo wir auch bis morgens auf der Tanzfläche standen und beim Verlassen mit zugekniffenen Augen zerknirscht den Sonntag begrüßten. Im grellen Sonnenlicht war dann nicht selten das ganze Elend zu sehen. Die, denen die Nacht noch nicht reichte. Für die die Party jetzt erst RICHTIG anfing. Die Gesichtskirmes der LSD-Opfer rotierte immer noch munter im Kreis, obwohl die Musik schon längst aufgehört hatte und der DJ bereits auf dem Heimweg war. Erschreckend ist da gar kein Ausdruck… und „The Walking Dead“ ein Scheißdreck dagegen! Und diese Leute sah man überall. Die hielten das Wasserglas nicht in der Hand, um daraus zu trinken, sondern um sich die Flüssigkeit über den kochenden Kopf zu schütten. Ich sah mal jemanden, der sprach in einem Moment noch ganz normal, bevor ihm unangekündigt Blut aus der Nase schoss… nicht ein paar Tropfen… in Fontänen! Da hast du „Shining“ live und in Farbe, ganz ohne Aufzug und schäbbige Zwillinge.
Ich will nun auch gar nicht weiter in der Moral-Schublade wühlen und so tun, als hätte ich nie Scheiße gebaut. Haben wir alle mal… und daraus gelernt. Aber Drogen? Nope… dafür waren die berechtigte Angst vor den Folgen UND der gesunde Menschenverstand stets am richtigen Fleck. Leider lügen die Zahlen nicht und weisen auf, dass im Jahr 2019 allein in Deutschland 1.398 Menschen in Folge durch illegalen Rauschgiftkonsum gestorben sind. Ein Anstieg von fast 10% gegenüber dem Vorjahr. Laut Bundesministerium für Gesundheit zeigen rund 600.000 Deutsche einen gefährliches Suchtverhalten auf, wobei Alkohol, Nikotin, Online-Sucht und Glücksspiel nicht mitgerechnet sind. Durchaus besorgniserregende Zahlen.
Suchtprävention
Dominik Forster, auf dessen autobiographischen Erzählungen auch die vorliegende Graphic Novel basiert, schrieb den gleichnamigen Roman (2016 erschienen im duotincta Verlag) nicht etwa in einer Zeit, in der er bereits mit seinem alten Leben abgeschlossen hatte. Die ersten Sätze verfasste er, nachdem er den Knast hinter sich gebracht hatte und ihm eigentlich mit seinen damals 24 Jahren die ganze Welt offenstehen sollte. Theorie und Praxis sind aber zwei gänzlich verschieden Paar Schuhe und in ersteren steckend, hört es sich einfacher an, als es sich in der Realität letztendlich darin laufen lässt. Ohne Arbeit, ohne Wohnung und die Sorgen in Alkohol ertränkend, sah die erhofft-blühende Zukunft plötzlich aus einem Tunnelblick nur noch grau, verwaschen und sehr, sehr weit entfernt aus. Doch mit der richtigen Schulter, die helfend zur Seite steht und die dringend benötigte Stütze liefert, lässt es sich auch aus dem tiefsten Sumpf klettern. Gefährlich nahe dran wieder abzusacken und von den falschen Leuten zurückgezogen zu werden, bekam Dominik Forster Hilfe von Norbert Wittman, dessen Projekt „Über den Berg“ eine wichtige Station für den Hilfesuchenden war. Hier lernte er, wieder Freude am Leben zu haben. Zu wissen, wofür es sich zu leben lohnt. Liquid Ecstasy, Crystal Meth und die Sehnsucht nach dem Rausch traten immer mehr in den Hintergrund. Doch der Weg war mehr als steinig…
Auch in der Graphic Novel erzählt Forster schonungslos aus seinem früheren Leben auf der Überholspur. Auf dieser fuhr er so schnell und benebelt, dass er jegliche Ausfahrt verpasste… und glücklicherweise (wenn auch auf die harte Tour) merkte, dass er mit durchgetretenem Gaspedal auf der Gegenfahrbahn fuhr. Ein riesiger Pluspunkt ist das mehr als umfangreiche Bonusmaterial, welches knapp ein Drittel des Hardcovers mit erschütternden und auch bewegenden Informationen füllt. Angefangen von einer Timeline, die die Stationen von Dominik Forsters bisherigem Leben aufzeigt, gefolgt von Briefen, die er aus dem Gefängnis an seine Familie schrieb, einem Interview mit Benni Becker von blu:prevent (dem Suchtpräventionsprojekt des Blauen Kreuzes in Deutschland e.V.), einem Gespräch mit Norbert Wittman von „Über den Berg“, ein Interview mit Dominik Forster höchstpersönlich, über Schüler-, Eltern- und Lehrer-Resonanzen auf Forsters Präventionsarbeit an Schulen in ganz Deutschland, Zeitungsartikel über seine wichtige Mission, bis hin zu mehrseitigen Skizzen und Artworks, die auch die Entstehung einzelner Seiten zeigen. Schlussendlich wird dann noch das Team hinter „crystal.klar: Die Graphic Novel“ vorgestellt.
Am Thema vorbei gezeichnet
Und an dieser Stelle tut es mir fast schon weh, dass gerade die Zeichnungen die Schwachstelle des ansonsten höchstempfehlenswerten Buches sind. Hat Stefan Dinter, der ansonsten beim Zwerchfell Verlag die Fäden zieht und seit über 20 Jahren Comics zeichnet, noch ein gutes Händchen, was die Adaption als Graphic Novel angeht, machen es mir die Illustrationen von Adrian Richter schwer, der Geschichte den nötigen Ernst entgegenzubringen. So drastisch, wie Dominik Forsters Lebensbeichte im Kern ist, sollte mich die Wucht des Erlebten mit einem ordentlichen Schwinger in der Magengegend treffen. Der cartoonige Stil, bei dem ich jeden Moment damit rechnete, dass Archie oder Jughead im nächsten Augenblick mit ihrer Gang durchs Bild latschen, federte die für dieses Thema gewünschte Härte doch jedes Mal wieder ab, sodass kaum ein Treffer ins Schwarze ging. Was besonders bedauerlich ist, da ich Adrian Richters Stil generell eigentlich sehr mag. Sein Debüt-Comic „Eichhörnchen“ (Zwerchfell) konnte mich komplett abholen, obwohl sich in dieser gelungenen Slice-of-Life-Geschichte ebenfalls Thematik und Zeichenstil ineinander verbissen. Natürlich kann der „niedliche“ Stil auch bewusst gewählt worden sein, um einen möglichst harten Kontrast herzustellen, was ich für mich aber nicht akzeptieren konnte. In „crystal.klar“ sprang der Funke einfach nicht über, was natürlich jeder Leser für sich entscheiden sollte.
Fazit:
Eine schonungslose Drogenbeichte und Abrechnung mit einem vergangenen Leben. Dominik Forster ist seit 2010 clean und begann zwei Jahre später eine Therapie. Noch im selben Jahr begann sein ehrenamtliches Engagement in der Drogenprävention. Nach vielen Aufs und Abs hat er den Sinn in seinem Leben gefunden und eine Arbeit die ihn erfüllt, was diese Graphic Novel trotz Defizite in der künstlerischen Umsetzung extrem wichtig und empfehlenswert macht.
Dominik Forster, Stefan Dinter, Adrian Richter, Panini
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