Zwischen Provinzalltag und Aufbruchstimmung
„Einfach nur Spaß haben!“
Nach diesem Motto lebt Hamed Mitte der 90er in den Tag hinein. Durch das Skaten hat er in der westdeutschen Provinz Anschluss gefunden, nachdem er mit seinen Eltern und der älteren Schwester als Sechsjähriger fluchtartig den Iran verlassen musste, wo die Familie Repressalien zu befürchten hatte. Schon immer künstlerisch interessiert, brachte ihn das Skaten zum Sprayen. Graffiti-Kunst war schwer angesagt und Hamed hegte sogar Ambitionen, nach der Schule die Kunstakademie zu besuchen. Obwohl dieses Vorhaben von seinem Kunstlehrer torpediert wurde, haben die gesprühten Kunstwerke für Aufsehen gesorgt. Eine Agentur hat Interesse am Talent von Hamed und seinem besten Freund Sven, mit dem er durch Dick und Dünn geht. Es besteht die Chance, dass sie für eine neue Kampagne Sneaker designen könnten. Hamed und Sven sind Feuer und Flamme und entsprechend heiß auf diesen Türöffner. Fest steht für beide, dass sie das Ding nur gemeinsam durchziehen. Zwischen ausschweifenden Partys, Kiffen und ersten sexuellen Erfahrungen, wäre die gefährdete Versetzung damit nicht mehr so bedrohlich. Eine Karrieremöglichkeit will schließlich beim Schopfe gepackt werden!
So sehr Hamed sich integriert hat und angekommen scheint, so sehr hadert sein Vater mit der neuen Heimat. Sprachbarrieren sind zu hoch und kulturelle Kluften einfach zu groß, als dass er sie überwinden könnte. Darunter leidet das familiäre Miteinander zusehends. Verknallt in ein Mädchen, dass schon vergeben ist, und mit einem Solo-Angebot der Agentur ohne Sven, häufen sich langsam die Probleme in Hameds kürzlich noch unbeschwerten Teenager-Leben. Bei Svens Eltern steht die Scheidung an, was den Jungen zu immer härteren Drogen greifen lässt, doch in Hameds Familie bahnt sich eine noch viel größere Tragödie an.
Dreideutiger Titel
Mit einem gelungenen Wortspiel kann man bei mir immer punkten. Hamed Eshrat schafft es mit dem Titel „Coming of H“ sogar dreimal, seinem Werk unterschiedliche Bedeutungen zuzuschreiben. Geschichten über das Erwachsenwerden bezeichnet man allgemein als „Coming-of-Age“-Stoff. Egal ob in Filmen, Romanen oder eben Comics, das Genre ist gleichsam verbreitet wie beliebt. Als Paradebeispiel – in Buch- und Film-Form – wäre da Stephen Chboskys „Vielleicht lieber morgen“ zu nennen, während im Comic-Bereich „Ein Sommer am See“ der Tamaki-Cousinen eine brandheiße Empfehlung ist. Da das englische „h“ wie „age“ gesprochen wird, steckt das Genre also bereits im Titel. Außerdem kann das „H“ auf den Künstler selbst verweisen, der autobiografisch aus seiner Jugend berichtet. Mit großen Ambitionen, jedoch haufenweise Stolpersteinen, die auf dem Weg zum Erwachsenwerden nicht selten wie gigantische Felsblöcke erscheinen. Einer dieser Brocken steht für die dritte Bedeutung: Drogen… besser gesagt Heroin. Auch „H“ genannt. Dieses One-way-Ticket löst Hamed zwar nicht, dafür ist sein Freund Sven experimentierfreudig. So sehr, dass ihn die Engelstrompeten sogar fast aus dem Leben blasen.
Offen und ehrlich
Der 1979 in Teheran geborene Hamed Eshrat, dessen Werke „Venustransit“ und „Nieder mit Hitler!“ bereits im AVANT-VERLAG erschienen und für Aufsehen sorgten, legt mit „Coming of H“ seine bislang persönlichste Geschichte vor. Mit feinem Gespür lässt er die 90er-Jahre wiederaufleben, in der viele von uns ebenfalls ihre Jugend verbracht haben. Gleichzeitig lässt er uns nah an sich heran, was vor allem die familiären Umstände betrifft. Keine Selbstverständlichkeit, denn die Verarbeitung von einschneidenden Verlusten ist eine sehr intime Angelegenheit. Diese zu teilen, halte ich für mutig und stark, was in der Umsetzung hervorragend und sehr bewegend gelungen ist.
Eshrats Zeichnungen sind stilisiert, jedoch grundsolide. Große künstlerische Experimente bleiben aus, dafür hat er einen guten Flow, der die Story sehr gut führt. In der Kolorierung angenehm unaufdringlich, heben sich die 90er nochmals von den monochromen Flashbacks in die Vergangenheit ab. Das macht das Geschehen stets nachvollziehbar und sorgt für einen guten Lesefluss. Auf der letzten Doppelseite teilt Hamed Eshrat dann noch private Fotos aus besagter Zeit, was „Coming of H“ mit einem nostalgischen Schuss Authentizität abschließt.
Fazit:
Zwischen Nostalgie, 90’s-Lifestyle und bewegender Dramatik findet Hamed Eshrat stets den richtigen Ton, um die Geschichte seiner Jugend mit den Leserinnen und Lesern zu teilen. „Coming of H“ ist „Coming-of-Age“ nach Maß.
Hamed Eshrat, Hamed Eshrat, Avant
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