Last Exit: HeteroLand
Ich hab’s gewusst…!
Lille, 2008: Auf einer Party konfrontieren Élodies Freunde sie mit ihrer sexuellen Orientierung. Für sie scheint es ein offenes Geheimnis zu sein, dass Élo lesbisch ist, wozu sie sich doch endlich bekennen soll. Was für die Freunde nur ein „Scherz“ in geselliger Runde ist, kommt für Élo wie ein Bumerang mit voller Wucht zurück. Als die erste Wut verflogen ist, prasseln in der Nacht alle möglichen Gedanken auf die junge Frau ein. Müsste sie es nicht als Erste wissen, wenn sie sich zu Frauen hingezogen fühlt? Sollte es ihr nicht egal sein, was andere denken? Reicht es, beim Masturbieren an Männer zu denken, um als hetero durchzugehen? Na danke, an Schlaf ist bei solchen Gedankengängen wohl nicht zu denken. Doch diese schlaflose Nacht markiert einen Wendepunkt in Élodies Leben…
Sie erinnert sich, dass sie schon im frühen Kindesalter nur mit Mädchen abhing. Zufall? Mag sein… aber was ist mit der Schauspielerin im Fernsehen, deren Namen ihr zwar zum Verrecken nicht mehr einfallen will, aber für einen ganzen Schwarm Schmetterlinge in ihrem Bauch gesorgt hat? Auch Zufall? Obwohl sie diese Gedanken lange in einem staubigen Kämmerlein einschloss und sogar mit ihren gleichaltrigen Freundinnen auf Männerjagd ging, waren sie immer noch da. Spätestens als Élo eine Beziehung mit Sébastien einging und es nach einiger Zeit intimer werden sollte, merkte sie, dass da irgendwas im Wege steht. Élodie suchte Ausflüchte, bekam Bauschmerzen und tat alles, um dem drohenden Geschlechtsverkehr zu entkommen. Sie wollte Sébastien keineswegs verletzen, konnte aber nicht aus ihrer Haut. Erregung? Fehlanzeige. Frigide? ALSO BITTE!!! Doch auch nach Sébastien wurde es nicht besser. Élo trug einen inneren Kampf aus, mit sich selbst als Gegner.
2009: Endlich platzt der Knoten und es kommt zusammen, was zusammengehört. Élos Freunde hatten recht damit, dass sie sich zur hübschen Maëlle hingezogen fühlt. Und Maëlle geht es ähnlich. Ende gut alles gut? Oh nein… denn Élo ist sich noch immer ziemlich sicher, dass sie prinzipiell auf Männer steht… mit Ausnahme von Maëlle. Außerdem fragt sie sich, wie sie ihren Eltern beibringen soll, dass sie eine Frau liebt. Élodie ist gerade mal auf halbem Weg ihrer jahrelangen Reise zur Selbstfindung. Inklusive Abzweigungen, Sackgassen und störenden Baustellen.
Mach’s besser
Es dauerte nur ein paar Seiten, und schon war ich „Coming in“ verfallen. Es gibt zahlreiche Comics und Graphic Novels auf dem weitläufigen Markt, die sich mit sexueller Orientierung, dem Coming-out oder Beziehungen in Zwickmühlen befassen, jedoch trifft kaum eine Veröffentlichung derart den Nagel auf den Kopf wie in diesem Fall. Das liegt zum einen an der Autorin Élodie Font, die ihre ganz private Geschichte zum Besten gibt. 2017 startete Font mit ihrem gleichnamigen Podcast bei ARTE Radio, auf dem dieses Werk auch beruht. Im Nachwort spricht Font an, ob es in einer vermeintlich toleranten und aufgeklärten Gesellschaft nicht überholt wäre, ihre eigenen Erfahrungen im Comic-Medium zu thematisieren. Die Antwort darauf kann nur „NEIN!“ lauten, denn leider ist das, was für viele von uns normal ist, noch lange nicht in allen Schichten und/oder Kulturkreisen angekommen. Homophobie ist noch immer ein Thema. Mit Sicherheit gibt es zahlreiche junge Menschen, die sich entweder nicht trauen zu ihrer Sexualität zu stehen, um im „Freundeskreis“ oder gar dem familiären Umfeld nicht wie Aussätzige behandelt zu werden, oder diejenigen, die noch orientierungslos durch sexuelle Gewässer planschen… ohne rettende Insel auf der einen oder anderen Seite. Beiden Gruppen würde ich mit Freude „Coming in“ in die Hand drücken. Und jedem anderen ebenfalls, denn „Coming in“ ist ganz nebenbei noch großartige Unterhaltung mit Poesie, Witz und dem typisch französischen Charme.
Der andere Grund, warum der Comic so gelungen ist, ist Carole Maurel. 2017 illustrierte sie bereits mitreißend „Magdas Apokalypse“ (SPLITTER) und zeigt mit unterschiedlichen Zeichenstilen eindrucksvoll, warum man sich ihren Namen als Comic-Liebhaber merken sollte. Jeder Strich sitzt und unterschiedliche Arten der Kolorierung sorgen immer wieder für Überraschungen. Die Farben sind kräftig, werden in bestimmten Abschnitten dann auf ein Minimum zurückgefahren, bis Élo als einzig farbiges Highlight durch eine schwarz-weiße Umgebung irrt. Die zackig gezogenen, dunklen Outlines sind stets präsent, weichen aber in gefühlvollen Momenten zarten und schwungvollen Linien. Ein visueller Booster für die Atmosphäre.
Fazit:
Obwohl Autorin Élodie Font schonungslos offen über die Entdeckung und Akzeptanz ihrer Sexualität spricht, ist ihr ein leichtfüßiger Selbstfindungstrip gelungen, der mit seinem positiven Charme und seiner kraftvollen Aussage so nur aus Frankreich kommen kann. Dank Fonts entwaffnender Ehrlichkeit und der farbenfrohen Umsetzung von Carole Maurel ist „Coming in“ mit all seinen Aufs und Abs eines meiner persönlichen Jahres-Highlights.
Élodie Font, Carole Maurel, Splitter
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