Text:   Zeichner: Tobi Dahmen

Columbusstraße - Eine Familiengeschichte: 1935 - 1945

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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonJul 2024

Story

Ein erschütterndes Zeitdokument, unvoreingenommen betrachtet und akribisch recherchiert. „Columbusstraße“ sollte Pflichtlektüre in jedem Geschichtsunterricht sein.

Zeichnung

Trotz zeitlicher Sprünge und vielen Erzählperspektiven sehr gut nachvollziehbar. Besonderes Lob an die Detailverliebtheit, die jedes Panel mit Leben erfüllt.

In Grautönen durch die NS-Zeit

Et hätt noch immer jot jejange…

1935: Der Rechtsanwalt Karl Dahmen lebt mit seiner Gattin Elisabeth und den gemeinsamen Kindern Eberhard, Peter, Marlies und Karl-Leo ein gutbürgerliches Leben im Düsseldorfer Stadtteil Oberkassel. Im gemütlichen Haus in der Columbusstraße. Es könnte so beschaulich sein, würde die Nationalsozialistische Arbeiterpartei (NSDAP) dem Volk nicht den Takt vorgeben. Die einzig zugelassene Partei Deutschlands hält die Zügel streng in der Hand, entfernt jeden aus dem Amt, der es wagt, die Stimme zu erheben. Das bekommt auch Karl zu spüren, der als Strafverteidiger in letzter Zeit immer öfter Klienten vertritt, die der Partei ein Dorn im Auge sind. 1936 handelt ihm sein Einsatz sogar einen Antrittsbesuch bei der Gestapo (Geheime Staatspolizei) ein. Wehret den Anfängen…, denn es wird noch viel schlimmer. Viel, viel schlimmer.

Der Judenhass kriecht schleichend in die Mitte der Gesellschaft. Eingeschlagene Schaufensterscheiben jüdischer Geschäftsleute, guter Nachbarn, die plötzlich nicht mehr da sind. Dann greift die Wehrpflicht. Voller Stolz, aber auch mit ein wenig väterlicher Sorge, entlässt Karl seinen ältesten Sohn Eberhard in den Kriegsdienst. Dann verändert eine Übertragung im Radio alles:

Am 1. September 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall Hitlers auf Polen. Im Jahr darauf, während das Deutsche Reich wächst und wächst, meldet sich Peter Dahmen, der zweitälteste Sohn der Familie, freiwillig als Infanterist. Eberhard, der gerade in München mit seinem Referendariat beschäftigt ist und sich eigentlich weit weg vom aktiven Kriegsgeschehen sieht, erhält seinen Einberufungsbescheid in die Reihen der Wehrmacht. Während Karl-Leo, der Jüngste der Brüder, das hektische Geschehen aus den Augen eines Kindes sieht, blicken Eberhard und Peter an unterschiedlichen Fronten dem blanken Grauen ins Gesicht.

Briefe in die und aus der Heimat spenden allen Beteiligten Trost. Zumindest für eine kurze Dauer, denn Angst und Sorge obsiegen. 1942 wird auf der Wannseekonferenz mit dem Holocaust die systematische Vernichtung jüdischen Lebens im Detail organisiert. Und während das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte seinen Lauf nimmt, kommen die Bombeneinschläge Düsseldorf näher und näher…

Opus Magnum

So schlicht und einfach könnte man Tobi Dahmens Mammutwerk „Columbusstraße“ bezeichnen. Schon 2016, kurz nach der Veröffentlichung seines ebenso autobiographischen Coming-of-Age-Bestsellers „Fahrradmod“ (ebenfalls bei CARLSEN und erst jüngst in einer Neuauflage erschienen), machte der in Frankfurt am Main geborene Zeichner sich an die Recherchen. Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters Karl-Leo Dahmen, dessen Briefe er ausgiebig studierte. Der Beginn einer langen Reise, denn Tobi Dahmen grub immer tiefer. Um eine möglichst lückenlose Darstellung seiner Familiengeschichte zu Papier zu bringen, mussten unzählige Gespräche geführt, Briefe übersetzt, Interviews transkribiert, Eindrücke vor Ort verarbeitet und historische Fakten recherchiert werden. Ungeschönt, weder anklagend noch verherrlichend. Man mag sich vorstellen, wie intensiv die Auseinandersetzung mit dieser schwierigen Zeit gewesen sein muss, bevor 2020 erst der eigentliche Prozess des Zeichnens begann.

Herausgekommen ist ein rund 500 Seiten starkes (das umfangreiche Glossar nicht mitgerechnet!) Ausnahmewerk, mit dem sich Tobi Dahmen endgültig in den deutschen Comic-Olymp katapultiert. Nicht nur ein großer Erfolg für Dahmen und den CARLSEN-Verlag, sondern wohl auch der Maßstab, an dem sich Comics zum Thema Zeitgeschichte bzw. Zweiter Weltkrieg in Zukunft messen lassen müssen.

Wenn man mit Dahmens Arbeiten bereits vertraut ist, muss man sich stilistisch nicht umgewöhnen. Leicht faserige, fast schon zittrige Outlines runden den leicht zugänglichen Stil mit Cartoon-Touch gekonnt ab. Nie zu clean, dafür stets übersichtlich und mit brillanten Überblenden zwischen den unterschiedlichen Handlungsorten bzw. -zeiten. Tobi Dahmen beweist auch ein tolles Gefühl dafür, Landschaften und Umgebungen unaufdringlich einzuarbeiten, die das beklemmende Mittendrin-Gefühl fließend intensivieren. Besonders die Liebe zum Detail – sei es bei Gebäuden oder Einrichtungsgegenständen der damaligen Zeit – fällt immer wieder ins Auge. Farblich belässt es Dahmen bei Grauabstufungen, was als einzig richtige Wahl erscheint.

Fazit:

Schwerer Stoff. Selten heiter, melancholisch und bedrückend, ja, wahrlich erschütternd. Die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte, meisterhaft anhand von Familienerlebnissen rekonstruiert und durch eigene Sicht auf die Dinge interpretiert. Mit „Columbusstraße“ hat Tobi Dahmen ein zeitgeschichtliches Werk vorgelegt, welches aktueller denn je erscheint. Nah an den Menschen, nah an ihren Schicksalen. Die Leserinnen und Leser erwarten intensive Geschichtsstunden, die noch lange nachhallen. Sucht man als Comic-Liebhaber nach relevanten Zeitzeugenberichten zum Thema Nationalsozialismus, sollte man zukünftig nur fragen „Tobi, or not Tobi?“…

Columbusstraße - Eine Familiengeschichte: 1935 - 1945

Tobi Dahmen, Tobi Dahmen, Carlsen

Columbusstraße - Eine Familiengeschichte: 1935 - 1945

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