Text:   Zeichner: Rey Macutay

Chaos - Band 1

Chaos - Band 1
Chaos - Band 1
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Marcel Scharrenbroich
6101

Comic-Couch Rezension vonNov 2018

Story

Anfänglich durchaus spannend, verblasst das Interesse an den Reißbrett-Figuren, in einer Story mit Daily-Soap-Charakter, leider recht schnell. Auf das versprochene „Chaos“ wartet man (fast) vergeblich. Nur die Handlung des apokalyptischen Anfangs weckt die Neugier auf Band 2.

Zeichnung

Beeindruckende Bilder mit lebensechter Mimik. Egal, ob endzeitliche Braun-Töne oder strahlend-farbige Städte-Illustrationen, hier passt alles. Detailliert und rasant-dynamisch ist hier jedes Panel auf den Punkt getroffen, ohne künstlich zu wirken.

LOAD“WELTAMABGRUND“,8,1

#wirsindamarsch

ZACK-BUMM, da haben wir es mal wieder schwarz auf weiß… besser gesagt, schön bunt auf weiß. Unsere Abhängigkeit von technischen Hilfsmitteln soll uns (mal wieder) ins namensgebende „Chaos“ stürzen. Steifer Nacken, dicke Daumen und reflexartige Wischbewegungen beim Durchblättern eines Fotoalbums sind nur einige Nebenwirkungen der technischen Revolution. Hotspots in der letzten Bahnhofsklitsche, Fast-Food auf Knopfdruck und ein Kühlschrank, der rumplärrt, wenn die Milch mal wieder leer ist… Halleluja, du schöne neue Welt! Aber mal Ernst beiseite… Wenn in einigen Städten schon Ampel-Anlagen in den Gehweg eingelassen werden, damit Smartphone-Zombies nicht unter die Räder kommen und Siri und Alexa zu festen WG-Mitgliedern werden, sollten wir anfangen uns Sorgen zu machen… oder zumindest mal Gedanken darüber, zu was wir noch eigenständig in der Lage sind. Schaffen wir es noch, ohne Autokorrektur ein Schreiben fehlerfrei aufzusetzen? An Informationen zu kommen, ohne den allwissenden Herrn Google, der auf Abruf 24 Stunden in unserer Hosentasche wartet, um Rat zu fragen? Uns simple Telefonnummern zu merken? Unsere Gefühle ohne Emojis auszudrücken? Würden wir den Rückschritt problemlos verdauen? Oder uns in Höhlen zurückziehen und mit Stöcken aufeinander eindreschen? Und DAS wären nur unsere privaten Probleme! Von den globalen Ausmaßen und den wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Eines ist sicher: Es wäre ein heilloses „Chaos“.

Format C:

Gleich zu Beginn tauchen wir ein, in eine postapokalyptische Szenerie, die in ihrer misanthropischen Kälte eher an ein mittelalterliches Schlachtfeld erinnert, als an eine strahlende und moderne Zukunft. Zwei Armeen prallen barbarisch aufeinander. Verluste sind auf beiden Seiten zu beklagen. Die Angreifer sind kurz davor geschlagen zu werden, während sie versuchen, das umzäunte Dorf einzunehmen, als ER das Schlachtfeld betritt: der „Patriarch“.

Er ist ein großgewachsener Mann gehobenen Alters, der… ach, machen wir uns nichts vor: Der Knabe ist 129 Jahre alt, pumpt sich eine merkwürdige Flüssigkeit in die Venen, rückt sich das Mützchen zurecht und legt los, wie die Feuerwehr! Mit Axt und Dolch bewaffnet spaltet und halbiert er Schädel, hüpft munter durchs Getümmel und grätscht in seine Gegner, als gäbe es kein Morgen. Konfrontiert mit dem gegnerischen Anführer stellt sich heraus, dass der Patriarch versucht, die aufkeimende maschinelle Revolution zu verhindern. Eine Revolution, die der schwer gepanzerte Gegner namens Albert mit neu entwickelten Maschinen vorantreiben will. Diese sollen die Ernte erleichtern, den Handel verbessern und dem Schutz dienen. Doch der Patriarch weiß, wohin der Fortschritt führen wird… wohin er geführt HAT! Er hat die menschliche Abhängigkeit von Technologie bereits erlebt. Und auch, was diese anrichten kann, sollte einmal der totale Blackout eintreten…

Marseille im Jahr 2052… der Vergangenheit. Noch gibt es keine Anzeichen dafür, dass aus dem jungen Studenten François Deschamps einmal der weißbärtige Anführer wird, der mit aller Macht dem Fortschritt den Kampf ansagt. Noch ist seine Welt in Ordnung. Noch ist die GANZE Welt in Ordnung.

Hier wartet er auf seinen Zug nach Paris. Vor seiner Abreise erhält er noch einen Anruf, der seine Aufnahme an der Hochschule für Agrochemie bestätigt. Die Prüfung als Bester abgeschlossen hat er…, der Streber. Läuft rund beim selbstsicheren François. Die rund 776 Kilometer zwischen den Städten legt er dann, dank modernerer Fortbewegungsmittel, in knapp 22 Minuten zurück. Eine Strecke, für die wir aus heutiger Sicht mindestens sieben Stunden brauchen würden (ich hab nachgeschaut)… aber erzähl das mal der Deutschen Bahn… die fallen vor Lachen vom Stuhl. Jedenfalls sind dem jungen Studenten die öffentlichen Verkehrsmittel auch schon damals nicht ganz geheuer und mit jeder schweißtriefenden Pore sträubt er sich gegen den Kontrollverlust, den er zusammen mit dem Ticket vor der Fahrt abgibt. Doch er nimmt es in Kauf. Im modernen Paris wartet nämlich seine Jugendfreundin Blanche auf ihn.

Blanche Rouget steht währenddessen am Beginn einer großen Karriere. Der vor Geld triefende Musik-Mogul Seita prophezeit der aufstrebenden Künstlerin eine blühende Zukunft als Sängerin. Unter dem Namen Regina Vox soll sie die Charts stürmen und die Geilheit in Seitas Augen durch Dollar-Zeichen ersetzen. Als er vom Besuch von Blanches Freund erfährt, setzt der Schmierlappen alle Hebel in Bewegung, um den lästigen Konkurrenten am langen Arm verhungern zu lassen. Für jemanden mit Seitas Einfluss ist es natürlich ein Klacks und ein Anruf genügt, um François‘ Studenten-Pläne schneller platzen zu lassen, als es jeder Zug von Marseille nach Paris je schaffen könnte. Oh Schreck… welch ein Drama, Baby!

Und was hat diese Soap-Opera nun mit dem titelgebenden „Chaos“ zu tun? Nun, das werden wir wohl erst im zweiten Band erfahren, denn „chaotisch“ wird es erst auf den letzten fünf Seiten des ersten Bandes.

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Ja, man könnte jetzt natürlich vorschnell urteilen und dem Comic unterstellen, dass er mit seinem reißerischen Cover ein falsches Bild suggeriert. In gewisser Weise stimmt dies auch, da der erste Band nicht mehr als ein Auftakt ist, der zur Einführung der Charaktere dient. Damit folgt „Chaos“ der klassischen Abfolge von bekannten Katastrophen-Filmen. Doch nicht nur die Aufteilung in drei Akte erscheint hier wie ein Abziehbild gängiger und geläufiger Motive. Auch die Figuren selbst scheinen nach Schema F dem Reißbrett entsprungen. Der geleckte Saubermann François Deschamps, dem das Selbstbewusstsein schon an den Ohren hinausläuft, versprüht nicht den Funken einer Identifikationsfigur. Sein selbstverliebtes Sieger-Lächeln möchte man ihm als Leser sofort aus der Visage wischen… zumindest wollte ich dies. Auch der mehr als offensichtliche Antagonist Seita, den man bereits im ersten Panel als solchen identifizieren kann, erfüllt alle Klischees, die man sich nur vorstellen kann. Der schmierige Musikproduzent, der seinem „Opfer“ Avancen macht und es mit Geld, Macht und Ruhm ködert, erinnert mit seinem notgeilen Zahnpasta-Lächeln und der Don King-Gedächtnisfrisur an alles, was aus der überfüllten Schublade mit der Aufschrift „08/15“ herausfällt. Aus genau dieser scheint auch die Vorlage für Blanche/Regina herausgepurzelt zu sein… Beinahe unglaublich, dass im Jahr 2018 (und 2052, wo die Geschichte ja angesiedelt ist) noch solch ein Frauenbild existieren soll. Entgegen den starken Frauen, die uns sonst begegnen - sei es in Film, TV, Romanen, Comics und vor allem im WAHREN Leben – macht der Autor hier drei Schritte nach hinten, mit abschließendem Salto rückwärts. Allerdings ist dies wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass die Story dem in Deutschland unveröffentlichten Roman „Ravage“ des französischen Schriftstellers René Barjavel entnommen ist, welcher bereits 1943 veröffentlicht wurde. Ja, es waren andere Zeiten, aber dennoch… Seine Blanche verkommt hier zum naiven Landei, das von der großen „vom-Tellerwäscher-zum-Millionär“-Karriere träumt, was beim Lesen schon fast wehtut. Das… Verzeihung… dumme Klischee-Blondchen, welches ich eigentlich für ausgestorben hielt, dem die offensichtliche Anmache erst dann zu viel wird, als es fast schon zu spät ist… und dann um Hilfe schreit, anstatt der lüsternen Fettsau dahin zu treten, wo es ordentlich klingelt! Wenn Barjavel sich SO die Zukunft vorstellt, dann Prost Mahlzeit. Eine zeitgenössischere Adaption, die sich in Sachen Charakter-Profil Freiheiten erlaubt, seitens Morvan, hätte dem Werk deutlich besser zu Gesicht gestanden.

Wenden wir uns aber nun einem freudigeren Thema zu: den Zeichnungen. Diese sind, im Gegensatz zur Story, hervorragend gelungen. Rey Macutay fängt bereits die postapokalyptische Ödnis auf den ersten Seiten stimmungsvoll ein. Seine detaillierten Gesichter wirken fast fotorealistisch und wenn die Handlung ins Jahr 2052 wechselt, bekommt man vor Staunen fast den Mund nicht mehr zu. Das Zukunfts-Setting erstrahlt in brillanten Farben und die Architektur lädt zum Staunen ein. Hier liegt eindeutig die Stärke von „Chaos“. Ein doppelseitiger Blick auf das futuristische Paris, klassische Gebäude-Illustrationen oder dynamische Action-Sequenzen… hier sieht man, dass Rey Matucay sein Handwerk versteht.

Fazit:

Die beeindruckenden Bilder reißen es raus. Inhaltlich bedient „Chaos“ leider jedes nur erdenkliche Klischee und bildet nicht mehr als den Prolog, der auf drei Bände angelegten Geschichte. Richtige Spannung kommt erst auf den letzten fünf Seiten auf, als die Ereignisse beginnen, sich zu überschlagen. Zudem unsympathische Charaktere, deren Eigenschaften ihnen zwar bereits 1943 auf den Leib geschrieben wurden, dem Leser aber 2018 herzlich egal sein dürften, da sie vollkommen überholt sind. Das anfängliche Untergangs-Szenario weckt allerdings das Interesse und macht neugierig auf den Werdegang des „Patriarchen“.

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