Der Danvers-Clan
Auszeit
Inmitten einer gepflegten Keilerei wird Captain Marvel von quälenden Erinnerungen an ihre Kindheit geplagt. Die Gedanken an den versoffenen Typen mit der lockeren Hand, der sich Daddy schimpfte, verfehlen ihre wutfördernde Wirkung nicht und so kommt es, dass Carol Danvers ihre Gegnerinnen Tanalth und Moonstone dermaßen verschwartet, dass selbst den restlichen „Avengers“ – Iron Man, She-Hulk, Thor, Black Panther und Captain America – kurz der Atem stockt. Glücklicherweise kommen die windelweichgeprügelten Kontrahentinnen noch mal mit dem Leben davon und eine wieder zu Sinnen gekommene Carol sackt erschöpft zusammen. Ein derartiger Kontrollverlust, der in einer zermürbenden Panikattacke seinen Höhepunkt findet, sollte nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Wieder zurück in Tony Starks Labor, nimmt dieser Carol unter die Lupe und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei ihrem Ausraster um ein tieferliegendes Problem handelt. Tonys Warnungen, dass ein solch unberechenbares Verhalten schnell nach hinten losgehen kann und beim nächsten Aussetzer womöglich ernsthaft verletzte Opfer zu beklagen sein könnten, tragen Früchte. Captain Marvel nimmt den gutgemeinten Rat des „Eisernen“ an und beschließt, ihren Gefühlen auf den Grund zu gehen. Dazu zieht es sie an einen Ort ihrer Vergangenheit. Einen Ort, den sie im Sommer immer mit ihrer Familie besuchte, als man das graue Boston für ein paar Wochen hinter sich ließ…
Home Sweet Home
Kaum in Harpswell Sound, einem kleinen Städtchen im Bundesstaat Maine, angekommen, trifft Carol auf einen alten Freund aus Kindheitstagen, der mit seiner Mom den örtlichen Donut-Shop betreibt. Groß geworden isser, der Louis… war ja auch lange nicht mehr da, die Carol. Nach einem kurzen Plausch sucht die Heldin auf Urlaub das Haus ihrer Mutter Marie auf. Herrlich ländlich und abgeschieden von der turbulenten Großstadt lebt diese hier während des Sommers mit Carols Bruder Joe… genau wie früher. Manche Dinge ändern sich halt nie. Ihr Vater, der eigentliche Grund für ihre Auszeit, ist schon vor längerer Zeit verstorben… ebenso ihr Bruder Stevie.
Eine nächtliche Diskussion mit Carols Bruder Joe auf dem Friedhof, einem Ort, den Carol seit der Beerdigung ihres Vaters gemieden hat, sorgt dafür, dass Joe wütend in sein Auto steigt und davonfährt. Fatal… denn ein Unfall, bei dem Captain Marvel ihren Bruder gerade noch aus dem brennenden Wrack retten kann, sorgt dafür, dass die eigenen Probleme erstmal in weite Ferne rücken müssen. Diagnose: Schädel-Hirn-Trauma. Koma.
Verdammt lang hair
Ganze neun Monate dauert Carols selbstauferlegte (und Tony Starks nahegelegte) Auszeit nun schon an. Joe wird endlich aus der Klinik entlassen und seine Schwester räumt die Couch, um sein Zimmer kurzzeitig zu beziehen. Beim Einräumen ihrer Sachen findet Carol jedoch alten Kram ihres verstorbenen Dads… Liebesbriefe? Hatte der Mistkerl etwa auch noch eine Affäre? Reichte es nicht, dass er ihre Mutter, ihre Brüder und SIE wie Dreck behandelte? Wütend und schockiert, fällt der jungen Frau beinahe beiläufig noch ein seltsames Gerät vor die Füße. Sieht aus wie ein externes Laufwerk. Carol versucht es zu öffnen, scheitert aber nach einigen „handfesten“ Versuchen und gibt schließlich auf… nicht ahnend, dass dieses kleine Gerät ein Signal sendet. Ein Signal, das ein Protokoll in den Tiefen des Alls aktiviert und schon bald unangemeldeten Besuch auf der Erde ankündigt. In Maine. In Harpswell Sound.
Wer denkt, dass dies bereits die GANZE Geschichte vorwegnimmt, irrt gewaltig. Der Inhalt umfasst gerade mal das erste von insgesamt fünf Kapiteln der abgeschlossenen Mini-Serie, welche noch viele, viele Überraschungen zu bieten hat. Und EINE ist sogar so gewaltig und unvorhersehbar, dass sie Captain Marvels gesamte Entstehungsgeschichte auf den Kopf stellt!
MARVEL & Mar-Vell
Mittlerweile verbindet man den Namen „Captain Marvel“ ausschließlich mit Carol Danvers, die sich in den letzten Jahren wahrlich zum Aushängeschild des Verlages gemausert hat. Auf der Bildfläche erschien Captain Marvel aber schon 1967, damals allerdings noch in männlicher Gestalt. Mar-Vell, ein Spion der außerirdischen Rasse der Kree, die sich in einem langjährigen Krieg mit den ebenso außerirdischen Skrulls befanden, lebte unter der Tarnidentität Dr. Walter Lawson unerkannt unter den Menschen. Er stellte sich allerdings gegen seine Rasse und setzte seine unglaublichen Kräfte zum Wohle der Menschheit ein. 1968 wurde die Air Force-Pilotin Carol Danvers als Nebencharakter eingeführt, die 1977 zur ersten „Ms. Marvel“ wurde. Ein Amt, das mittlerweile seit 2014 die pakistanisch-amerikanische Muslima Kamala Khan bekleidet. Carol Danvers erhielt durch eine Explosion ähnliche Kräfte wie Mar-Vell, als deren DNA bei dem Unfall miteinander verschmolz. Während Ms. Marvel über die Jahrzehnte immer wieder auftauchte und sogar zeitweise zu den „X-Men“ und den „Avengers“ gehörte – mal als „Warbird“ oder unter dem Namen „Binary“ -, ließ man Mar-Vell 1982 aufgrund sinkender Verkaufszahlen den Krebs-Tod sterben. Eine Reihe anderer Heldinnen und Helden traten in Folge das Erbe von Captain Marvel an, bevor das Zepter 2012 erfolgreich an Carol Danvers weitergegeben wurde. Die Autorin Kelly Sue DeConnick drückte der fortlaufenden Reihe ihren Stempel auf und bereitete den Weg für MARVELs mächtigste Heldin. 2016 (bei uns ab Januar 2017) stellte sich Captain Marvel dann in dem Groß-Event „Civil War II“ ihrem Kollegen Iron Man in den Weg und erneut krachten die gespaltenen Superhelden aufeinander.
Aktuell strahlt natürlich alles in den Farben von Captain Marvels buntem Dress und US-Leser können sich über haufenweise Variant-Covers ihrer Lieblingsheldin freuen. Dies geschieht selbstverständlich nicht ohne Grund, sondern gehört natürlich zu MARVELs cleverer Marketing-Strategie. Wie der Teufel es will, ist nämlich gerade der erste Kinofilm mit und rund um „Captain Marvel“ in den weltweiten Lichtspielhäusern angelaufen. Im insgesamt 21. Film des „MARVEL CINEMATIC UNIVERSE“ (MCU) verkörpert Oscar-Preisträgerin Brie Larson („Raum“) die Air Force-Pilotin Carol Danvers und wird beim ersten Solo-Film einer weiblichen MARVEL-Heldin tatkräftig von Jude Law, Annette Bening und einem digital verjüngten Samuel L. Jackson unterstützt. In Sachen Frauenpower hatte diesmal sogar die oft gescholtene Konkurrenz von DC mit dem erfolgreichen Abschneiden von „Wonder Woman“ die Nase vorn. Obwohl man mit Scarlett Johansson als Black Widow in den „Avengers“-Filmen schon eine extrem starke Frau im Team hat, die zudem eine hervorragende Schauspielerin ist, traute man sich wohl dennoch nicht, eine weibliche Heldin ohne Team-Unterstützung ins Rampenlicht zu stellen… schade eigentlich. Auch Gwyneth Paltrow tauchte bisher nur als Nebencharakter Pepper Potts an der Seite von Tony „Iron Man“ Stark auf, könnte allerdings eine wichtige Rolle im kommenden „Avengers“-Finale „Endgame“ einnehmen. Leider endet ihr Engagement im MCU nach diesem Film. Zoe Saldana machte bisher als grünhäutige Gamora ebenfalls eine sehr gute Figur… allerdings auch nur als Teil der „Guardians of the Galaxy“. Bleibt abzuwarten, wie gut sich „Captain Marvel“ international schlägt. Allein der Hype, den das Auftauchen ihres Logos in „Avengers: Infinity War“ ausgelöst hat, lässt Gutes erhoffen. Vielleicht bekommt man dann häufiger strahlende Heldinnen auf der großen Leinwand zu Gesicht… genügend Auswahl gibt es ja im MARVEL-Universum. Planungen für einen gemeinsamen Film über „Black Cat“ und „Silver Sable“ liegen mittlerweile schon wieder auf Eis und nachdem man bei Sony - welche ja versuchen ein „Spider-Man-Universum“ ohne Spider-Man aufzubauen und mit „Venom“ und dem kommenden „Morbius – The Living Vampire“ bereits damit begonnen haben – beiden Ladies Solo-Filme spendieren wollte, ist es erschreckend still um die Projekte geworden.
Wir werden sehen, was die nächste „Phase“ im MCU bringt, welche ja bereits in diesem Jahr mit „Spider-Man: Far from Home“ eingeläutet wird. Fest steht bereits, dass Captain Marvel einen wichtigen Part in den kommenden Abenteuern einnehmen wird, nachdem der Großteil der Helden dem MARVEL-Universum verloren geht. Die meisten Verträge sind nach „Avengers: Endgame“ ausgelaufen und es wird definitiv einen Umbruch im MCU geben.
Vielfalt…
…gibt es in diesem Panini-Softcover-Band an allen Ecken und Enden. Der einleitende Text von Christian Endres macht in Kürze mit Captain Marvels Ursprüngen vertraut und weist zudem darauf hin, dass DIESE folgende Geschichte so einiges umkrempelt und über den Haufen wirft. Da musste ich zwar erstmal schlucken und habe nichts Gutes erahnt, wurde aber schnell eines Besseren belehrt. Autorin Margaret Stohl holt eine Menge aus der Geschichte heraus und gibt dem Charakter ungeahnte Tiefe. Mehr Familien-Drama als knallbunte Superhelden-Action, wobei… ganz ohne krachende Fights kommt auch diese Geschichte nicht aus. Allerdings so gut und überschaubar platziert, dass der Fokus immer auf der hervorragenden Geschichte bleibt. Stohl schrieb bereits mehrere erfolgreiche Romane, Comic-Stories (unter anderem „Mighty Captain Marvel“) und Handlungen für Videospiele… darunter „Dune 2000“, „Command & Conquer: Tiberian Sun“ und den Multiplayer-Shooter „Destiny 2“. Und „Captain Marvel“ ist bei ihr genau in den richtigen Händen.
Künstlerisch bewegt sich „Captain Marvel: Die ganze Geschichte“ mit seiner leuchtenden Kolorierung und den harmonisch-fließenden Farbverläufen ebenfalls auf sehr hohem Niveau. Die gegenwärtige Handlung übernahm Hauptzeichner Carlos Pacheco, der zuvor bereits mehrfach die „Fantastic Four“ und „X-Men“ für MARVEL in Szene setzte. Auch für DC übernahm er hochkarätige Serien, wie „Flash“ oder „Superman/Batman“. Pachecos Detailverliebtheit kommt der Story zugute und die kreative Panel-Aufteilung sorgt für einen angenehmen Erzählfluss. Die Flashbacks in Carols Kindheit übernahmen Marguerite Sauvage und Erica D’Urso, deren Stil sich abgrenzt, aber nie zum Störfaktor wird. Ganz im Gegenteil. Die zeichnerisch und farblich kontrastierenden Erinnerungsfetzen aus der Vergangenheit sorgen für das gewisse Etwas und lassen einen tiefen Blick auf Carols innerste Gedankenwelt zu, was unterschiedliche Zeichenstile nicht nur rechtfertigt, sondern in meinen Augen unabdingbar macht.
Im Anhang des rundum gelungenen Werkes finden sich dann noch ausführliche Texte von Autorin Margaret Stohl und Zeichner Carlos Pacheco, von denen letzterer auch noch verworfene Entwürfe und Vorzeichnungen zeigt und erläutert. Krönender Abschluss ist eine Cover-Galerie, in der namhafte Künstler wie Stanley „Artgerm“ Lau, Joe Quesada, Fiona Staples, Terry Dodson, Adam Kubert oder Kaare Andrews ihre Variant-Designs zu den fünf US-Einzelheften in voller Pracht präsentieren. Die obligatorischen Künstlerbiografien zu Autorin und Zeichnern finden sich dann auf der letzten Seite des Bandes.
Für Captain Marvel/Carol Danvers-Fans (und die, die es werden wollen) ein tolles und informatives Gesamtpaket. Inwieweit die veränderte Origin-Story sich mit dem Kinofilm deckt, wird sich zeigen. Was Carols ansonsten kurze Haarpracht angeht, hat man sich jedenfalls dem Leinwand-Pendant optisch schon wieder angenähert. Pünktlich zum Filmstart ist übrigens „Die offizielle Vorgeschichte zum Film“ in einem 36-seitigen Heft erschienen, welche auf den ersten großen Leinwandauftritt einstimmen soll. Diese „Prelude“-Hefte gehören mittlerweile zum guten Ton und werden von MARVEL vor jedem neuen MCU-Abenteuer auf den Markt gebracht. Auf dem deutschsprachigen Markt erscheinen diese ebenfalls bei Panini.
Fazit:
Lange hat mich keine Superhelden-Story („Black Hammer“ mal außen vor gelassen) mehr so gepackt, wie „Captain Marvel: Die ganze Geschichte“. Höchstens die zweibändige „Vision“-Geschichte von Autor Tom King – „Eine (fast) normale Familie“ & „Träumen Androiden von virtueller Liebe?“ – sowie einige düstere Stories von der DC-Konkurrenz konnten mich dermaßen überzeugen. Gerade die leisen Töne, die hier erfreulicherweise dominieren, machen diese „Captain Marvel“-Mini-Serie zu einem echten Gaumenschmaus auf einer überfüllten Fast Food-Tafel. Soll nicht heißen, dass ich mich einer knallbunten Krach-Bumm-Orgie, mit unzähligen Akteuren, welche sich quer durch die Panels dreschen, verweigere, aber man fängt an, mit einem übersättigten Auge die Perlen auszusieben.
Margaret Stohl, Marguerite Sauvage, Erica D'Urso, Carlos Pacheco, Panini
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