Vieles geht, manches bleibt
Kindheitserinnerungen
Als der inzwischen sechzigjährige Harry Wallmann vom Abriss des alten Wohnblocks in Bremen, in dem er aufgewachsen ist, erfährt, möchte er nach jahrzehntelanger Abstinenz noch einmal die Luft seiner alten Heimat schnuppern und in Erinnerungen schwelgen. Seit mehr als fünfzig Jahren lebt Harry nun schon in Süddeutschland, doch ein unsichtbares Band hält ihn immer noch an dem Ort seiner Kindheit. Als er aus der Straßenbahn steigt und einen ersten Blick auf die ehemals vertraute Gegend wirft, bietet sich dem Mann ein trostloses Bild. Baustellen, Absperrungen und leerstehende Gebäude, deren Mauern kurz davorstehen, nach gefühlt ewiger Standhaftigkeit, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen und sich unter lautem Getöse und geisterhaften Staubwolken zur Ruhe zu legen. An die 50er-Jahre, die Zeit, in der Harry ein Kind war, erinnern nur noch die Straßennamen und die Mauerwerke, die die Zeit überdauert haben. Da steht Harry nun, vor seinem alten Wohnhaus. Unten im Haus befand sich früher ein Ladenlokal. „Geffes Bücher-Börse“. Dort verbrachte er damals viel Zeit und seine Vorliebe für bebilderte Gruselgeschichten brachte ihm den neckischen Spitznamen „Gespenster-Harry“ ein. Das Schild hängt immer noch über dem großen Schaufenster und Harry wagt einen Blick ins Haus. Vereinzelte Kartons mit Heften, Romanen und Bildergeschichten erinnern an bessere Zeiten und rufen diese auch alsbald wieder hervor, wenn auch nur in Gedanken.
Harte Schule
Der junge Harry half dem Inhaber, Herrn Geffe, des Öfteren aus, wenn dieser große Mengen an Lesematerial für sein Antiquariat erstanden hatte. Er sortierte dieses und bekam dafür einige Exemplare seiner heißgeliebten Gespenster-Geschichten. Solche Comics wurden zu dieser Zeit nicht gerne gesehen und oftmals als Schund abgetan, der die Köpfe der Kinder zumüllt und ihnen Flausen in den selbigen setzt. Vor allem vor seinen Lehrern versuchte Harry die Hefte zu verstecken, da diese die unnütze Lektüre meist sofort einkassierten. Besonders schlimm war der Schulleiter, Herr Müller-Naujoks, dessen elitäre und sadistische Ader nur zu gerne hervorpochte. Es herrschte ein rauer Ton und von Mitgefühl fehlte jegliche Spur. Der alte Harry hat nicht nur positive Erinnerungen an seine Kindheit, denn während er die alten Hefte durchblättert, fällt ihm beim Blick auf eine bestimmte Ausgabe ein Erlebnis ein, das ihn bis heute beschäftigt und schmerzliche Erinnerungen hervorruft… Ein Erlebnis, mit dem er noch nicht abgeschlossen hat… Ein Erlebnis, das noch verstärkt wird, als er plötzlich eine Stimme aus dem Obergeschoß hört…
Geister der Vergangenheit
Autor Peer Meter wirft einen - teils autobiographischen - Blick auf vergangene Tage und erzählt, wie er als Kind in Berührung mit dem Medium Comic kam. Ich wurde beim Lesen von „Böse Geister“ auch mehrfach (positiv) abgelenkt und ertappte mich bei meinen eigenen kleinen Zeitreisen in die Vergangenheit… Das Stöbern in Buchhandlungen, bei Zeitschriftenhändlern und der erste Besuch im Comic-Shop, den ich auch heute noch regelmäßig aufsuche... Anders als bei mir, da waren es die 80er, begann die Leidenschaft für Comics bei Meter bereits in den 60er-Jahren, in denen er bei seinen Ferien-Streifzügen durch die Stadt auf die damals tatsächlich existierende „Geffes Bücher-Börse“ stieß.
Abgesehen von den autobiographischen Auszügen, erzählt Peer Meter mit „Böse Geister“ eine anrührende Geschichte über Vergänglichkeit und Dinge, die man ein Leben lang mit sich herumträgt. In leisen Tönen webt der Autor Mystery-Elemente ein und trägt den Leser auf einer Welle der Melancholie zum Finale. So mancher Twist dürfte schon vor dem Ende zu erahnen sein, was der sympathischen Geschichte aber nicht negativ ins Gewicht fällt.
Peer Meter, der vor allem mit seiner Serienmörder-Trilogie „Gift“, „Haarmann“ und „Vasmers Bruder“ für Aufsehen sorgte und dafür auch ausgezeichnet wurde, schlägt mit „Böse Geister“ leisere, nachdenklichere Töne an. Dieses gelingt dem Autor auch wunderbar und die Übergänge – zwischen der heutigen Zeit, mit dem älteren Harry Wallmann, und seinem jüngeren Ich in den 50ern – funktionieren nahtlos und flüssig, sodass der Leser nicht aus dem Geschehen gerissen wird.
Einen großen Anteil am Charme der übernatürlich angehauchten Geschichte hat auch die Zeichnerin Gerda Raidt. Die gebürtige Berlinerin arbeitet als freie Illustratorin in Leipzig und verleiht „Böse Geister“ mit atmosphärischen Bleistift-Zeichnungen den passenden Look. Ihr skizzenhafter Strich wirkt zwar gelegentlich etwas steif, passt aber - besonders in den Rückblenden - gut zur dargestellten Zeit. Die feinen schwarz-weiß-Illustrationen wirken fast zerbrechlich und man traut sich kaum diese zu berühren, aus Angst sie könnten verwischen. Eine gewisse Flüchtigkeit, die auch gut zur Thematik der Erzählung passt.
Der Reprodukt-Verlag veröffentlichte „Böse Geister“ bereits 2013 als gebundene Ausgabe. Der matte Einband des handlichen Buches gefällt allein schon durch das atmosphärische Front-Motiv. Auch die gute Verarbeitung bietet keinen Grund zur Beanstandung.
Fazit:
Peer Meter und Gerda Raidt nehmen den Leser mit, auf eine nachdenklich stimmende und in vergangene Gedanken schwelgende Kurzreise in die Vergangenheit. Die übernatürlichen Elemente spielen sich nicht in den Vordergrund und werden nur dezent - dafür wirkungsvoll - eingesetzt. Eine unaufgeregte, bittersüße Geschichte über Verlust, Kindheit und Erinnerung in harmonischen Bildern.
Peer Meter, Gerda Raidt, Reprodukt
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