„Die Zeit mag Wunden heilen, aber sie ist eine miserable Kosmetikerin“ -Mark Twain
Wir erinnern uns:
Bereits im ersten Spin-off-Band zu Jeff Lemires epischer „Black Hammer“-Saga - „Sherlock Frankenstein und die Legion des Teufels“ – lernten wir Dr. James Robinson kennen. Er hielt die bewegende Rede, in der der Verlust der Helden von Spiral City beklagt wurde, die nach ihrem zerstörerischen Kampf gegen den Anti-Gott im Bruchteil einer Sekunde spurlos verschwanden. Wie vom Erdboden verschluckt, lösten Black Hammer, Golden Gail, Abraham Slam und die anderen tapferen Streiter sich buchstäblich in Luft auf und wurden deshalb für tot erklärt… doch wir wissen natürlich besser, was passiert ist.
Am Rande dieser öffentlichen Trauerfeier, in den Trümmern von Spiral City, lernte die kleine Lucy Weber den Wissenschaftler Robinson bereits kennen, der ihr tröstende Worte zum Verlust ihres Vaters Joseph – alias Black Hammer – mit auf den Weg gab. Es vergingen acht Jahre, in denen das junge Mädchen nichts über ihren berühmten Vater preisgeben durfte, um sich selbst oder ihre Mutter nicht in Gefahr zu bringen. Robinson hatte ihren Werdegang verfolgt, ebenfalls, dass sie im Begriff war, ihr Journalismus-Studium zu beginnen und er kam zu dem Entschluss, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Er teilte ihre Hoffnung, dass die Helden – und somit auch Joseph Weber – bei der Explosion, die den Anti-Gott besiegte, nicht ums Leben kamen und überreichte ihr den Schlüssel zum Vermächtnis ihres Vaters… der „Hall of Hammer“. So konnte Lucy ihre Suche beginnen.
Doch James Robinson ist mehr als nur eine Randnotiz im „Black Hammer“-Universum. Einst war er selbst einer der strahlenden Helden von Spiral City, die die Stadt mehr als nur einmal vor dem sicheren Untergang bewahrten. Er griff nach den Sternen und ließ die Zeit hinter sich. Er war „Doctor Star“. Und das ist seine Geschichte…
Zu Höherem berufen
Ein hagerer, älterer Mann – vom Leben sichtbar gezeichnet – betritt eine verlassene Sternwarte. Seine Worte richtet er an einen gewissen Charlie, dem er einiges mitzuteilen hat… und gleichzeitig auch an uns. Es ist Dr. James Robinson, der hier, in dieser Sternwarte, seiner früheren Wirkungsstätte, einst Unvorstellbares vollbrachte. Hier wurde seine Arbeit zur Obsession. 1941 arbeitete Robinson ohne Unterlass an der Entdeckung der „Para-Zone“, in der der Wissenschaftler unendliche Energiequellen vermutete. Sein Schaffen zog auch das Interesse der Regierung auf sich und so kam es, dass das Verteidigungsministerium seine Forschungen unterstützte und voran trieb. Natürlich nicht aus reiner Nächstenliebe. Man erhoffte sich die Entwicklung einer zerstörerischen Waffe, die den laufenden Krieg beenden könnte. Robinson willigte ein, obwohl seine Frau Joanie diese Entscheidung eher kritisch betrachtete. Doch Robinson wollte seiner Gattin und dem neugeborenen Sohn eine bessere Zukunft bieten. Er arbeitete härter als zuvor, ging nicht mehr nach Hause, wurde… obsessiv. Dann gelang ihm der Durchbruch. Sein Traum von dem Griff nach den Sternen wurde Wirklichkeit und sogar noch übertroffen. Er durchbrach die dimensionale Membran und saugte die Energie der Sterne auf. So wurde Jim Robinson zu „Doctor Star“
Vorbei waren die „theoretischen“ Zeiten, in denen er sich im Labor verkroch und die Nase in Büchern vergrub. Mit seinen neuen Kräften konnte er aktiv eingreifen, selber zur Waffe werden. Als Mitglied der legendären „Liberty Squadron“ besiegte er die Nazis, wendete Krisen ab und verteidigte Spiral City. Er hatte es geschafft… er war ein Superheld. Doch so fanatisch, wie er bereits seine Forschungen als Physiker verfolgte, so obsessiv war er auch in seiner neuen Tätigkeit. Ein Mann kann eben nicht aus seiner Haut… Ein HELD kann nicht aus seiner Haut und muss tun, was ein Held tun muss. So stellte er seine Berufung erneut über die Belange seiner Familie und folgte dem Ruf des Alls. Als ihn ein Hilferuf vom anderen Ende der Sterne erreichte, zögerte Doctor Star nicht. Er brach auf, um eine fremdartige Rasse auf einem fernen Planeten zu beschützen. Friedliebend und unfähig sich zu verteidigen, zog Star für die unbekannte Spezies in die Schlacht. So bezwang er einen riesiges, intergalaktisches Drachenwesen, bestätigte seinen Helden-Status, nur um ruhmreich zur Erde zurückzukehren. Doch… eine Sache hat der schlaue Wissenschaftler nicht bedacht. EINE Sache, die er besser hätte wissen müssen…
Bittersweet Symphony
Der kanadische Autor Jeff Lemire beweist mit „Doctor Star und das Reich der verlorenen Hoffnung“ einmal mehr, dass er zu den Besten seines Fachs gehört. Unter dem großen Deckmantel „Superhelden-Comic“ verbirgt sich deutlich mehr, als das ewige Gut-gegen-Böse, welches das Genre bereits seit dem „Goldenen Zeitalter“ prägt. Zum einen verbeugt sich der Autor vor dieser Hochzeit der Comic-Helden, zum anderen formt er dieses neu und reißt unsichtbare Grenzen ein. Soll heißen, dass Lemire sich nicht an ungeschriebene Gesetze hält und somit inhaltlich immer wieder aufs Neue überrascht. Dass Superhelden-Comics sich im Laufe der Jahre und Jahrzehnte entwickelt haben und reifere Inhalte bieten, steht wohl außer Frage. Jeder, der behauptet, dass heutige Stories immer noch nach dem klassischen schwarz/weiß-Muster entstehen, hatte mit Sicherheit lange, lange kein aktuelles Heft mehr in Händen.
Ähnlich der brillanten Graphic Novel „Der Unterwasser-Schweißer“, welche ebenfalls von Lemire geschrieben (und gezeichnet) wurde und mich tief bewegt hat, implementiert er nun ein ähnliche tragisches Familien-Geflecht in sein „Black Hammer“-Universum. „Doctor Star“ ist ein traurig-dramatisches Teilstück eines facettenreichen Gesamtwerks, dessen Ausgang hoffentlich noch lange auf sich warten lässt.
Ein weiteres Puzzleteil
Die Melancholie, die die Geschichte verbreitet, spiegelt sich auch in den Zeichnungen wieder. Speziell die tristen und blassen Farben von Dave Stewart fangen die Atmosphäre sehr treffend ein. Entkräftigt und ihrer Strahlkraft beraubt… ganz wie der Protagonist höchstselbst. Dieser wird sowohl als gebrochener Mann, als auch als stolzer Vorzeige-Held, gekonnt von Zeichner Max Fiumara aufs Papier gebracht. Fiumara ist auch kein unbeschriebenes Blatt, sondern mischte schon gehörig in Mike Mignolas „Hellboy“-Kosmos mit, zeichnete „Spider-Man“ für MARVEL und legte Hand an „Lucifer“ aus Neil Gaimans „Sandman“-Universe. So überzeichnet manche Darstellung in „Doctor Star“ auch ist, so over-the-top, wie die markanten Gesichtszüge meist auch geraten sind, so treffend fängt Fiumara auch den Grundton der Geschichte ein und verarbeitet ihn zu aussagekräftigen Bildern. Ganzseitige Illustrationen, die direkt ins Herz treffen und Doppelseiten, die detaillierte Zeitraffer verdeutlichen… stimmig und stets nachvollziehbar.
Im Bonusteil des Bandes findet sich dann das Sketchbook von Max Fiumara, der zusammen mit Autor Lemire ein wenig über die Entstehung plaudert. Charakter-Entwürfe, Skizzen, Bleistift-Zeichnungen und fertig getuschte Seiten. Dazu noch eine Cover-Galerie von anderen namhaften Künstlern.
Der Bielefelder Splitter Verlag legt erneut einen sehens- und vor allem lesenswerten Hardcover-Band vor, der die „Black Hammer“-Saga weiterhin erfolgreich auf Kurs hält. Der mittlerweile dritte Band der Haupt-Reihe – „Age of Doom: Buch 1“ ist dieser Tage erschienen und setzt den eigentlichen Erzählstrang der gestrandeten Farmer wider Willen aus „Band 1: Vergessene Helden“ und „Band 2: Das Ereignis“ fort. Jedoch haben auch beide bisher erschienenen Spin-offs (ein dritter Band soll im August 2019 erscheinen), welche den Haupt-Plot mit „Sherlock Frankenstein und die Legion des Teufels“ und eben „Doctor Star und das Reich der verlorenen Hoffnung“ ergänzen, bewiesen, dass sie MEHR als nur Lückenfüller sind. Sie sind die geheime Zutat, die aus einem Festmahl ein Sterne-Menü macht… der Schliff, der einen Diamanten zum strahlen bringt… die ergänzenden Werke, die „Black Hammer“ zur aktuell besten Reihe auf dem Comic-Markt machen.
Fazit:
Wann hat Euch ein Superhelden-Comic zuletzt zu Tränen gerührt? Ihr könnt Euch nicht erinnern? Dann empfehle ich „Doctor Star und das Reich der verlorenen Hoffnung“ zu lesen… danach fällt die Antwort nicht mehr so schwer.
Jeff Lemire, Max Fiumara, Splitter
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