Harlem Shake
Vor den „Ghostbusters“…
…mischte die Sangerye-Familie die US-Metropole New York auf. In den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts leben die Cousins Cullen und Berg im afroamerikanischen Kulturzentrum Harlem. Zusammen mit ihrer Cousine Blink und der resoluten Kräuterkundlerin Ma Etta haben sie dem Bösen den Kampf angesagt. Familientradition. Dabei bilden die Harlem-Sangeryes die Speerspitze der Monsterjäger, nachdem die Familie durch einen tragischen Zwischenfall dezimiert und zersplittert wurde.
Der bullige Berg ist der Erfahrenste, was den Kampf gegen die sogenannten Jinoos angeht. Sein Cousin Cullen befindet sich mehr oder weniger in einer Ausbildungsphase, aber es bringt ja nichts… er muss es ja lernen. Die monströsen Jinoos stammen dabei nicht aus der Hölle, dem All oder einer parallelen Dimension, sondern sind eine direkte Ausgeburt der Gesellschaft. Genährt durch Wut und Hass, mutieren gewöhnliche Menschen zu rasenden Bestien. Unterstützt von der jungen, abenteuerlustigen Blink braut Ma Etta im heimischen Unterschlupf das nötige Gegenmittel, um den Infizierten wieder zu ihrer menschlichen Gestalt zu verhelfen. Freilich würde Blink lieber bei den Jungs mitmischen, da sie kämpferisch bereits einiges auf dem Kasten hat, doch Ma Etta sieht diese Ambitionen eher mit gemischten Gefühlen. Zu viele Sangeryes mussten schon ihr Leben lassen… darunter auch Blinks Mutter.
Auch im entfernten Southern Mississippi geht ein Familienmitglied einsam seiner Jäger-Tätigkeit nach: Ford Sangerye. Nachdem er einen armen Bruder vor den Lynch-Ambitionen des Ku-Klux-Klans rettet, unter dessen Kapuzen sich selbstverständlich ebenfalls hasserfüllte Jinoos verbergen, schließt sich ein geläutertes Mitglied seinem Weg an. Gerade noch mal von der schiefen Bahn abgekommen, scheint dessen Seele noch unbefleckt. Auf ihrem Weg treffen Ford und Johnnie-Ray Knox (Südstaatler… was sonst) auf einen Jinoo, der sich von allen anderen unterscheidet… keinen verwandelten Menschen, sondern ein Wesen direkt aus der Hölle. Die Legenden sprechen von sogenannten Torwächtern. Als Ford dann noch eine versteckte Karte findet, auf der alle Orte markiert sind, an denen diese Jinoos urplötzlich in Scharen eingefallen sind, steht für ihn fest, dass er zurückkehren muss. Zurück nach Hause… nach Harlem.
Dort dampft währenddessen schon gehörig der Kessel, denn Berg und Cullen sehen sich mit einem Jinoo konfrontiert, der in Größe und Stärke bisher alles Gesehene überragt. Und zudem kennt dieses Monstrum noch ihre Namen! Ganz so glimpflich wie sein Cousin kommt Berg nicht davon… er wird infiziert. Selbst Ma Ettas Allheilmittel, ein Serum, gebraut aus der Fiif’No-Wurzel, kann Bergs Verwandlung nicht mehr verhindern. Rasend, jedoch noch zum Teil Herr über seine Sinne, droht plötzlich Gefahr aus den eigenen Reihen. Nur Einer kann jetzt noch mit seinem Wissen über das bisher Unbekannte helfen: Enoch Sangerye. Doch die Entscheidung, ihn um Hilfe zu bitten, fällt nicht leicht… trägt er doch Schuld an den herben Verlusten in der Sangerye-Familie.
Aus aktuellem Anlass
Obwohl es hier vordergründlich um haarsträubende Action im Turbo-Tempo geht, springt ein Thema regelrecht aus den bunten Seiten: Rassismus. Die monströsen Jinoos verkörpern zweifellos die Fackel schwingenden Rassisten, die alles Fremde krakeelend durch die Dörfer jagen. Hass, Gier und Wut haben ihre Seelen vergiftet und ihnen ihre Menschlichkeit beraubt. Zwischen amerikanischer Geschichte, Folklore, Kultur und reichlich Fantasy, kommt dieser Mix zwar oftmals mit dem Klischee-Holzhammer, trifft aber den Nerv der Zeit und damit voll ins… Schwarze. Filmregisseur Jordan Peele schaffte dieses mit seinem Überraschungserfolg „Get Out“ ein paar Nuancen subtiler zu vermitteln und konnte auch mit seinem Folgefilm „Wir“ sehr gelungen daran anknüpfen, während MARVELs „Plack Panther“ die Klischee-Schublade direkt mit voller Wucht aus dem Schrank riss. „Bitter Root“, vom rein afroamerikanischen Autoren-/Zeichner- Team Chuck Brown, David F. Walker und Sanford Greene, reiht sich irgendwo zwischen diesen filmischen Beispielen ein. Mal andeutungsweise, wenn leicht mit dem Finger in der Wunde gebohrt wird… um dann aber wieder die ganze Faust reinzuschlagen. Tiefe ist im Ansatz also vorhanden, die pausenlose Action dominiert jedoch.
Da die Reihe in den Vereinigten Staaten einen Glanzstart für den Image Verlag hinlegte, dürfte es nicht verwundern, dass bereits kurz nach dem Start eine Verfilmung angekündigt wurde. Den Zuschlag erhielt die Produktionsschmiede Legendary Entertainment, die mit Christopher Nolans „Dark Knight“-Trilogie, Zack Snyders „Watchmen“, „Jonah Hex“, sowie den beiden Supes-Abenteuern „Superman Returns“ und „Man of Steel“ bereits auf reichlich Comic-Erfahrung zurückblicken kann. Als Produzenten konnte man „Creed“- und „Black Panther“-Regisseur Ryan Coogler verpflichten, der aktuell an einer zweiten Wakanda-Story werkelt. Auch das Kreativ-Dreigestirn hinter „Bitter Root“ wird in den Produktionsprozess involviert sein.
Ein zeichnerischer Tsunami…
…bricht hier über den Leser herein! Stylish und sehr dynamisch in Szene gesetzte Action, die einen fast erschlägt. Jeder Zentimeter wurde optimal genutzt, um die rasante Story gebührend umzusetzen. Sanford Greene kann bereits auf eine langjährige Karriere zurückblicken und war für MARVEL unter anderem für die „Runaways“ und das Heroes-for-Hire-Duo „Power Man und Iron Fist“ tätig. Die Superhelden-Vergangenheit merkt man seinem Stil in „Bitter Root“ auch deutlich an, was ein großer Pluspunkt des Auftakts ist. Dabei halten sich die Panels sowie deren Inhalte an keinerlei Regeln. (Im besten Sinne) dreckig, wild und schnell peitscht Greene die Leser durch die Handlung.
Bei der stimmungsvollen Kolorierung wurde er von Rico Renzi unterstützt, der seinerseits am Oscar-prämierten Animations-Knaller „Spider-Man: A New Universe“ mitarbeitete. In den düsteren Passagen – mit viel Schwarz und Lila – an Mike Mignolas „Hellboy“ erinnernd, findet das Duo stets die passenden, grellen und auch ungewöhnlichen Farb-Kombinationen, um eine poppige Atmosphäre zu verbreiten. Genau SO sollten Comics dieses Kalibers aussehen.
Zwischen den Kapiteln finden sich die regulären Cover-Motive von Sanford Greene, während die letzte Kapitel-Seite jeweils einem Variant-Motiv vorbehalten ist. Diese zeigen großartige Artworks von den Comic-Größen Mike Mignola, Bill Sienkiewicz, Skottie Young, David Mack und Ben Oliver. Weitere Motive finden sich zwischen den Textteilen im Anhang. Damit ist Splitters Hardcover im Bookformat bestens ausgestattet und lässt keine Wünsche übrig.
Renaissance
Dass die Geschichte von „Bitter Root“ in den 20er-Jahren angesiedelt ist, geschah sicherlich nicht durch Zufall. Dieses Jahrzehnt wurde geprägt durch die „Große Migration“, bei der zwischen 1910 und 1930 etwa 1,6 Millionen Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner den Süden verließen und in den Norden und Westen der USA übersiedelten. Eine zweite Welle von rund fünf Millionen Menschen folgte zwischen 1940 und 1970. Der Zuwachs war prägend für viele Großstädte und etablierte die afroamerikanische Mittelschicht. Während dieser Zeit konnten sich auch prägende Stile der Kunst erstmals ungehindert entfalten. Kunst, die auch heute noch eine große Rolle in der Popkultur spielt. Beispielsweise in der Musik, wo die Jazz-Stilrichtung Swing sich in den 20ern herausspaltete.
Im extrem umfangreichen Bonusteil von „Bitter Root“ gibt es zahlreiche lesenswerte Essays. Darunter Texte der Autoren Chuck Brown und David F. Walker, John Jennings (Autor und Professor für Medienwissenschaft und Cultural Studies), einen Textauszug aus W.E.B. DuBois‘ „Criteria of Negro Art“, eine Abhandlung von Dr. Kinitra Brooks über „Hoodoo und Conjure in der schwarzen Popkultur“, Twitter-Posts von begeisterten Lesern, den Beitrag „Blut und Wurzeln“ der Autorin und Forscherin für afroamerikanischen Lebensstil Dr. Regina N. Bradley, Dr. Qiana Whitteds (Professorin für Englisch und afroamerikanische Studien) Interpretation von „Bitter Root“, bittere Wahrheiten vom Assistenzprofessor für Grafikdesign Stacey Robinson, der auch die Rassenunruhen von Tulsa (1921) anspricht, welche auch im Comic selbst und jüngst auch in der HBO-Serie „Watchmen“ thematisiert wurden, und zudem auf die Wichtigkeit von MARVELs „Black Panther“ eingeht, während abschließend noch die Leiterin des Benedict College in Columbus, Dr. Ceeon D. Quiett Smith, zu Worte kommt.
Fazit:
Ein sehr gelungener Auftakt, der noch nicht zu viel von den Charakteren preisgibt und neugierig auf deren Entwicklung macht. Die rasante Action zieht alle visuellen Register und bietet unter dem graphischen Bombast sogar mehr Tiefe, als es auf den ersten Blick den Anschein macht. Das umfangreiche Bonusmaterial (Texte, Skizzen, Cover der regulären sowie Variant-Ausgaben) verdient besondere Erwähnung.
Chuck Brown, David F. Walker, Sanford Greene, Splitter
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