Sag „JA!“ zum Leben
Schockdiagnose: Brustkrebs
Zuerst einmal JA… der Autor dieser Zeilen ist männlich, kann aber dennoch einiges zum Thema beitragen: Vor genau fünf Jahren erlebte ich im engsten familiären Umfeld alles hautnah mit. Auffälligkeiten bei der Routine-Untersuchung… warten… Ultraschall… warten… Biopsie… warten… dann die Diagnose: Brustkrebs. Es folgten Operation, Chemo-Therapie sowie anschließende Bestrahlung und regelmäßige Nachsorge. Da sich der Krebs in einem frühen Stadium befand und nicht streute, sind die acht Monate, die die effektive Behandlung andauerte, heute nur noch unter dem Reiter „schlechte Erinnerungen“ hinterlegt… abgesehen von den quartalsmäßigen Untersuchungen, deren Ergebnisse immer für Nervosität, aber anschließend auch für Erleichterung bei allen Beteiligten sorgen.
Aus diesem Grund kann ich gar nicht genug an alle Frauen appellieren, regelmäßig zu Vorsorge-Untersuchungen zu gehen. Leider wird dies noch oft als unnötig angesehen… das ist leider Fakt. Wer diese Termine aus Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit schleifen lässt und sich einen Dreck um seine Gesundheit schert, sollte immer auch an seine Angehörigen, Freunde und Partner denken. Diese gehen nämlich im Normalfall mit durch diese Krankheit. Wer denkt „Ach, das wird mich schon nicht treffen“ irrt sich gewaltig. Auch das Fernbleiben von Arzt-Praxen aus „Angst vor der Diagnose“ würde ich schon als grob fahrlässig bezeichnen, denn im frühen Stadium ist Brustkrebs sehr gut heilbar. Bei fortgeschrittenen Krankheitsbildern, inklusive Metastasen-Bildung, sinken die Chancen auf vollständige Genesung selbstverständlich entsprechend. Jährlich erkranken allein in Deutschland rund 70000 Frauen an der Krankheit… die Heilungsrate liegt bei 75-80%, was DEUTLICH höher ist, als in den 50er- oder 60er-Jahren. Klar… wer geht schon gerne zum Arzt, wenn er nicht krank ist? Dass eine simple Untersuchung aber im Endeffekt das eigene Leben retten und ungemein verlängern kann, sollte Ansporn genug sein.
(K)ein Tabuthema
Schon die ersten Seiten sprechen Bände. In einer (Alb)traum-Sequenz sieht Elisabeth bedrohliche Krebse, die sich ihr im Schlaf nähern. Immer dichter kommen sie heran… überfallen sie schließlich. Hilflos muss die junge Frau mit ansehen, wie die Gliederfüßer ihr Ziel anvisieren: Elisabeths linke Brust. Ohne Möglichkeit der Gegenwehr muss die Schlafende die heimtückischen Räuber mit ihrer Beute von dannen ziehen lassen… dann erwacht sie. Anfänglich noch schlaftrunken, realisiert sie, dass sich ihr Traum zur Tatsache manifestiert hat. Dort, wo sich einst ihre linke Brust befand, ist nun gähnende Leere und eine große, frisch vernähte Wunde erinnert an das, was vorher war. Panik!
Elisabeth hat Brustkrebs und die Perücke neben ihrem Krankenbett verdeutlicht, dass sie bereits einiges durchgestanden hat. Die Amputation war nun der krönende Abschluss ihres Leidensweges. Nachdem der erste Schock über den verlorenen Körperteil verdaut ist, freut sie sich nun auf ihren Geliebten. Eine vollständige Genesung in vertrauter und liebevoller Atmosphäre. Eine starke Schulter, an der sie sich anlehnen kann. Ja, das wäre der Idealfall… nur leider haut es die „starke Schulter“ beim Anblick seiner Partnerin erstmal unvermittelt aus den Schuhen. Schnell wird klar, wer hier die starke Persönlichkeit ist.
Elisabeths Partner distanziert sich mehr und mehr, kann nicht mit der neuen Situation umgehen. Statt als Fels in der Brandung an ihrer Seite zu stehen, weht es ihn als lasches Fähnchen im Wind bei jedem noch so kleinen Luftzug einfach um. Der jungen Frau platzt der Kragen und sie entledigt sich des unnötigen Ballasts. Doch die vermeintlich große Liebe und ihre Brust sind nicht die einzigen Dinge, die Elisabeth in solch kurzer Zeit verliert. Ihren Job als Verkäuferin in einem noblen Kaufhaus ist sie auch bald los. Für die Chefin, die glatt eine Schwester von Cruella de Vil - aus Disneys Ahnen-Galerie der bösartigen Ekel-Tanten - sein könnte, passt eine Mitarbeiterin im Kundenverkehr, die über ein offensichtliches Handicap verfügt, nicht ins ach so perfekte Bild ihrer gewinnorientierten (Schein)welt. Was für eine blöde Kuh!
Als wäre all dies nicht Dilemma genug, weht es der armen Elisabeth auch noch die Perücke vom Kopf, was eine abenteuerliche Jagd nach sich zieht, die sich quer durch die ganze Stadt erstreckt. Allerlei Gefahren nimmt die verzweifelte Frau während der turbulenten Hatz nach dem kleidenden Haarteil in Kauf, denkt sie doch, dass ihr dies ein wenig Normalität verleiht und der Blick in den Spiegel sie so nicht ständig an ihre Krankheit… und somit auch den schmerzhaften Verlust… erinnert. Was die überforderte Elisabeth zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht weiß, ist, dass das Ende ihrer Suche gleichzeitig den Beginn eines neuen Lebensabschnitts darstellen wird. Sie wird erkennen, dass es keinen Grund gibt, sich als „Aussätzige“ zu fühlen… dass sie nicht allein ist… dass sie voller ungeahnter Energie steckt… und dass eine verlorene Brust nur nebensächlich ist, wenn eine neue, bedingungslose Liebe die wahre, innere Schönheit entdeckt.
Es bedarf nicht vieler Worte…
…um Tragik, Schmerz und Lebensfreude so dermaßen nah aneinanderzureihen, wie es „Betty Boob“ tut. Die Geschichte einer jungen Frau, die durch die Hölle geht, scheinbar alles verliert und am Ende doch so viel gewinnt, gleicht einer wilden Achterbahnfahrt. Eine bunte, fantasievolle Revue, die trotz eines schweren Themas ausgelassene Leichtigkeit versprüht. Angelehnt an die Cartoon-Figur „Betty Boop“, die bereits in den frühen 30er-Jahren mit ihrem lasziven Auftreten in den Max-Fleischer-Zeichentrick-Episoden kokettierte, ist Elisabeths Transformation zur namengebenden „Betty Boob“ (engl. Boob=Busen) nur die logische Weiterführung. „Betty“ ist erfolgreich im neuen Jahrtausend angekommen… stärker, schöner und strahlender denn je!
Vollkommen verdient wurde „Betty Boob“ 2017 mit dem französischen Buchhandelspreis für Comics ausgezeichnet, denn die Art, wie Autorin Véro Cazot mit dem bleischweren Thema Brustkrebs umgeht, ist bemerkenswert. Zu Beginn noch niederschmetternd und tragisch, entwickelt sich die Geschichte – ebenso wie die Protagonistin – zu einem ausgelassenen Feuerwerk der Leichtigkeit, welche das Leben zelebriert. Wie Phoenix aus der Asche schreit und tanzt die „neue“ Elisabeth alles heraus, was ihr altes Leben belastete und somit den Weg für eine hoffnungsvolle und glückliche Zukunft ebnete. „Ohne unten kein oben“, „Mund abputzen, weitermachen“, „Immer einmal mehr aufstehen, als man hingefallen ist“, „Oft gibt es nur einen Weg nach oben, wenn man ganz unten angekommen ist“, bla, bla, bla… die Liste solcher aufmunternden Du-schaffst-das-Sprüche könnte man noch mehrere Seiten weiterführen, doch die spielerische und lebensbejahende Art und Weise, wie deren Kontext hier auf den Punkt gebracht wird, ist beispiellos. Auch der treffsichere Humor, der bei einem bierernsten Thema wie Krebs auf den ersten Blick unangebracht scheint, funktioniert hervorragend und entschärft die vorhandene Tragik, ohne zu entschleunigen oder zu verharmlosen. Dies ist zweifelsohne auch dem optischen Part von „Betty Boob“ zu verdanken.
Bis auf wenige Ausnahmen kommen die flüssigen und dynamischen Illustrationen von Julie Rocheleau ohne begleitenden Text aus. Alles überträgt sich hier durch die detaillierte Bildsprache der Künstlerin. Vom Charakter-Design her schwungvoll und markant-überzeichnet, jedoch nie lächerlich und stets ästhetisch dargestellt. Die auflockernde Komik ist selbst in der ersten, noch dramatischeren Hälfte treffsicher, bevor die Panels dann fantasievoll im weiteren Verlauf explodieren. Von tristem schwarz-weiß steigert sich die Farbpalette zu angedeutetem grün, blassem gelb, warmen orange und kraftvollem pink. Eine Bonbon-Kolorierung, die so bunt und fantasievoll ist, wie die gesamte Welt von „Betty Boob“.
Fazit:
Wer eine augenscheinlich schwere Thematik nicht scheut, wird mit einem der wundervollsten und schönsten Titel des Jahres belohnt. Ein Comic-Buch das polarisiert, Mut macht und auf ganzer Linie begeistert.
Véro Cazot, Julie Rocheleau, Splitter
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