Da capo!
Geschichten aus dem „Amt für Verkomplizierung einfacher Sachverhalte“
Silvano Landi ist in seinen Fünfzigern und verdient seine Brötchen als Stand-up-Komiker. Außerdem befindet er sich in einer emotionalen Ausnahmesituation. Seine Mutter liegt nämlich im Sterben. Momentan besteht sein Alltag aus dem Hin- und Herpendeln zwischen einem Bed-&-Breakfast, dem Hospiz, in dem seine Mutter untergebracht ist, und den Örtlichkeiten seiner Stand-up-Auftritte… sollte er einen dieser Termine nicht mal wieder verschwitzt haben. Wie gesagt: emotionale Ausnahmesituation. Dann wird es hektisch. Auf der Bühne muss er dann häufig mal improvisieren, um den Abend noch irgendwie zu schaukeln. So erzählt er dort auch von seiner sterbenden Mutter… und vermischt diese intimen Momente mit ein paar eilig gekritzelten Kalauern über Squirting (worauf in an dieser Stelle nicht näher eingehen möchte). Dem Publikum gefällt’s, doch der Komiker badet nicht in den Lachern, sondern fährt weiter wie auf Autopilot in der Emotions-Achterbahn. Erden tun ihn höchstens die Telefonate mit seiner Frau, während er nachts von Kosmonauten auf einsamer Mission träumt, sein bisheriges Leben in abstrakten Tagträumen rekapituliert oder auf den langen Autofahrten mit seinem jungen Ich plaudert. Diese leuchtende Version seiner selbst schafft es nicht nur, ihm mit kindlicher Naivität auf den Sack zu gehen, sondern zeigt ihm auf, dass die angebliche Unbekümmertheit eines Kindes nur eine Illusion war… und ist. Die Ansichten des „traurigen Clowns“ geraten ins Wanken.
Nicht abschrecken lassen
Dass man ein Buch nicht anhand seines Umschlags bewerten sollte, trifft im Falle dieser großformatigen Graphic Novel zu 100% zu. Zeigt das Cover lediglich eine schlicht gezeichnete Skizze unseres Hauptcharakters, erwartet die Leserinnen und Leser im Innenteil eine regelrechte Wundertüte mit den unterschiedlichsten Zeichenstilen. Wem der Name Gipi nicht fremd ist, wird wissen, dass der italienische Künstler (bürgerlich Gian Alfonso Pacinotti) für komplexe Erzählkunst und zeichnerische Vielfalt steht. „Besondere Momente mit falschem Applaus“ zeigt beide Attribute in Bestform. Mit „Die Welt der Söhne“ (AVANT) oder „Aldobrando“ (CARLSEN; Gipi als Autor) konnte er mich bereits zweimal abholen, auch wenn die Themen dieser Arbeit nicht leicht verdaulich sind. Verlust, Schmerz, Verdrängung, Trauer und Sorge. Nicht unbedingt etwas für Tage, an denen eh schon graue Wolken über den Köpfen hängen. Dennoch gelingt es Gipi - auf seine ganz eigene verschachtelte Art und Weise - die lebensbejahenden Aspekte herauszuarbeiten. Analysieren sollte man allerdings nicht jeden Punkt, denn der Versuch könnte Kopfschmerzen bereiten. Vielmehr sollte man die Geschichte auf sich wirken lassen… selbst wenn das Schwadronieren über die Dreharbeiten von „Der Soldat James Ryan“, Nachrichten aus dem Autoradio, der Vergleich eines umherziehenden Urmenschen mit dem Unmenschen Joseph Goebbels und der gefährliche Irrweg einer Kosmonauten-Crew anfangs Fragen aufwerfen.
Die Szenenwechsel sind rasant. Wir verharren nie lange an einem Ort, sondern rasen durch die (nicht immer klaren) Gedankengänge des Protagonisten. Das hat auch künstlerische Auswirkungen, denn jede Szene kommt in einem gänzlich anderen Stil daher. So zeichnet Gipi die Kosmonauten in schroffen schwarz-weiß Bildern, während aufblitzende Erinnerungen an die frühste Kindheit konturlos und in schönsten Aquarellen eingeschoben werden. Die Realität könnte man als Mischung beider Zeichenstile betrachten.
Fazit:
„Besondere Momente mit falschem Applaus“ ist eine fordernde Graphic Novel, die man am besten mit dem Herzen lesen sollte. Optisch abwechslungsreich und vielfältig, inhaltlich eine berührende Reise voller Metaphern und surrealer Momente, die die harte Realität nur scheinbar erträglicher machen.
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