Flucht vor der Vergangenheit
„Ich habe keine Angst. Die Angst ist nicht real.“
Sage Derting ist zarte 18 Jahre alt und hat gerade erst ihre Heimat Portland hinter sich gelassen. Vom östlichsten Bundesstaat Maine ging es in den Westen von Nevada, genauer gesagt nach Melview. Dort studiert sie Psychologie. Nicht ganz uneigennützig, denn traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit haben ihre Spuren hinterlassen. Schon früh erfuhr sie häusliche Gewalt, war den sexuellen Übergriffen ihres Vaters schutzlos ausgeliefert. Ausgerechnet er, ein Cop… „schützen und dienen“, na klar. Umso verständlicher, dass Sage möglichst weit entfernt einen Neuanfang anstrebt. Doch die Angst ist ihr stetiger Begleiter. So, als würde er ihr auf Schritt und Tritt faulig in den Nacken atmen. Nicht überraschend, dass es Sage auf Grund ihrer Erfahrungen nur schwer Vertrauen in Fremde fassen kann. Ganz besonders Männern geht sie aus dem Weg, denn sofort wirft ihr Kopfkino den schlimmsten Horrorfilm auf die Leinwand vor ihrem geistigen Auge, und zwar in Dauerschleife. Recht mittellos und ohne feste Bleibe haust die Studentin in ihrem alten Van, schafft es aber, einen Job in der Uni-Bibliothek zu ergattern. Nichts Weltbewegendes, besteht ihre Tätigkeit doch hauptsächlich auf das vermeintlich einsame Katalogisieren von Büchern. Das bringt wenigstens etwas Geld in die gähnend leere Kasse… und eventuell in naher Zukunft eine Bleibe ohne Räder und Schiebetür.
So still es in der Bibliothek auch sein mag, lernt Sage dort trotzdem die sympathische April Gibson kennen, eine gleichaltrige Physik-Studentin. Man freundet sich an. Aus netten Plaudereien wird schon bald ein Wochenende unter Freundinnen. Ein großer Schritt für die schüchterne und von Ängsten geplagte Sage. Vor allem, weil April zusammen mit ihrem Bruder Luca zusammenlebt. Ausgerechnet der Typ, der Sage auch noch in der Bibliothek als ihr Kollege an die Seite gesetzt wird. Hätte sie das geahnt, hätte sie wohl den Job sowie das Mädels-Wochenende gleichermaßen ausgeschlagen. Oder vielleicht… nicht? Denn irgendwie löst Luca in ihr so ganz andere Gefühle aus, als der Rest der bedrohlichen Männerwelt…
Vom Roman-Bestseller zur Graphic Novel
Die Graphic Novel basiert auf der erfolgreichen Buchreihe von Laura Kneidl. Bestehend aus „Berühre mich. Nicht.“, „Verliere mich. Nicht“, „Vergiss uns. Nicht.“ und „Zerbrich uns. Nicht.“ ist diese auf mittlerweile vier New-Adult-Schmöker angewachsen. Die in Erlangen geborene Schriftstellerin landete damit einen Überraschungserfolg, den die gebürtige Ungarin Gabriella Bujdosó nun im ersten Teil der Adaption in Bilder fasst. Leider sind die an sich hübsch gezeichneten Charaktere auf den zweiten Blick recht ausdruckslos und starr. Ihnen fehlt es an Emotionen, was bei einer solch gefühlsbetonten Geschichte das A und O sein sollte. Die digitalen Bilder sind stets als solche zu erkennen und das zeigt sich dann auch in der eintönigen Kolorierung. Nichtsdestotrotz arrangiert man sich irgendwann mit den Zeichnungen und nimmt sie so hin, wie sie sind.
Ein weiterer Knackpunkt ist das Lettering. Der Text wirkt wie reingetippt und versprüht überhaupt kein Comic-Flair. Handlettering oder wenigstens eine stylische Schriftart hätten da schon Abhilfe schaffen und wesentlich mehr zur Atmosphäre beitragen können. Dafür ist die Verarbeitung des Hardcover-Buches hochwertig. Der geprägte Titelschriftzug und die Spotlack-Applikationen heben den schweren Band im Regal hervor.
Blick von der „anderen“ Seite
Ich weiß, dass ich mal so gar nicht zur angepeilten Zielgruppe gehöre, doch von Haus aus neugierig, blicke ich liebend gern über den Tellerrand. Es gibt doch kaum etwas Spannenderes, als sich an Themen oder ganze Genres heranzutasten, die eigentlich weit entfernt von den normalen Lesegewohnheiten liegen. Man mag gar nicht glauben, wie oft man positiv überrascht wird. „Berühr mich. Nicht.“ trifft da jetzt nicht zwingend ins Schwarze, sondern entspricht eher dem, was ich erwartet hatte: viel Drama, traumatische Vergangenheiten, die eine Trigger-Warnung im Buch verlangen (sind wir wirklich so sensibel geworden, dass uns die harte Realität ohne Vorwarnung aus der Bahn wirft?), und romantische Gefühle. Was nach einer Schnulze par excellence klingt, funktioniert aber auf vielen Ebenen. Man sollte den Teufel in Mannsgestalt vielleicht nicht so plakativ und über einen Kamm scherend an die Wand malen, doch Sages begründete Angst ist im Kern durchaus nachvollziehbar. Der Spannungsbogen verläuft zwar recht linear, jedoch kam überraschenderweise keine Langeweile auf. Ich ertappte mich tief versunken in Sages Alltag und mittendrin in ihrer schwankenden Gefühlswelt. Nicht die höchste Erzählkunst, dafür kurzweilig und in einem charmant-überschaubarem Umfeld.
Fazit:
Die Story kann - trotz einiger Klischees und dem Generalverdacht der Hauptprotagonistin, dass potentiell von allen Männern Gefahr ausgeht - durchaus berühren und ja, sogar mitreißen. Einen Innovationspreis gibt es sicherlich nicht, dafür ist der Plot (bislang?) zu schwach. Auch als Gesamtwerk ist auf Grund der hölzernen Zeichnungen noch Luft nach oben.
Laura Kneidl, Gabriella Bujdosó, LYX
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