Bei Gefallen auch mehr ...

  • Avant
  • Erschienen: Januar 2019
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Bei Gefallen auch mehr ...
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Julia Beckers
6101

Comic-Couch Rezension vonMai 2019

Story

Eine einsame Frau versucht sich am Online-Dating und verliert sich in dieser Welt. Die Story verläuft leider im Sand und muss für die ausufernde, abstrakte Bildsprache Platz machen.

Zeichnung

Goblet und Pfeiffer probieren sich durch eine Vielzahl verschiedener Stile und schaffen einen interessanten, aber auch etwas wirren Stil-Mix, der keinen Regeln folgt und somit wenig zur Narration beiträgt.

Online-Dating als abstrakter Fiebertraum

Im Schweizer Fernsehen lief vor ein paar Jahren eine Game Show, bei der der Teilnehmer einen Publikumsjoker auswählen durfte,  wenn er die Antwort nicht wusste. Alle im Publikum, die die Antwort kannten (oder gut im bluffen waren, denn es gab Geld, wenn man den Teilnehmer von seiner falschen Antwort überzeugen konnte), standen auf und riefen wild durcheinander "Nimm mich" (bzw. das schweizerdeutsche Äquivalent "Nimm mi"). Da standen also ein Haufen erwachsener Menschen und hopsten auf und ab, wedelten mit ihren Armen herum und riefen energisch "Nimm mich, nimm mich, nimm mich". Ich fand das irgendwie sehr ansprechend, wie aufrichtig bekloppt das aussah. Ich glaube, die Sendung war aber nicht so erfolgreich.

"Ich mag nicht: Verrat, Materialismus, traurige Menschen"

Ich musste während des Lesens von "Bei Gefallen auch mehr…" an diese Sendung denken.  Im Buch geht es ums Online-Dating. Eine Frau, namenlos, später oft einfach als "Die Mutter" bezeichnet, lebt in einem unordentlichen Haus. Im Garten herrscht Baustellenatmosphäre - das Schwimmbecken für die Tochter wurde nie fertiggestellt, weil das Geld ausgegangen ist oder vielleicht auch nie vorhanden war. Die Tochter wohnt schon lange nicht mehr zuhause, was genau mit ihr passiert ist, bleibt aber unklar.  Die Mutter schlendert durch die Räume und brütet über der Selbst-Beschreibung für ihr Dating-Profil. Irgendwann hat sie es geschafft, sich auf einen schnittigen Satz herunter zu brechen, der ansprechend klingt und sie beschreibt, ohne verzweifelt zu wirken. Ob sie so wirklich ist, ist egal.

Es gibt ständige Perspektiven- und Stilwechsel: auf eine Episode in Grautönen durch das Haus der Mutter folgen grelle Farben, die ihr Panel sprengen. Profile von potentiellen Männern reihen sich aneinander - peinliche Usernamen, banale Informationen (Lieblingsessen: Frühlingsrolle), sexuelle Vorlieben. Wer schon einmal selbst so ein Profil angelegt hat, kennt das nur zu gut.

Und dann liest man ein Profil nach dem anderen, die Profile vermischen sich, alle sind irgendwie gleich, irgendwie total verzerrt , es steht immer überall das gleiche, nur anders verpackt: NIMM MICH NIMM MICH NIMM MICH. Ich fand das ermüdend und hätte die Seiten am liebsten übersprungen, aber das ist wahrscheinlich genau das Gefühl, das Goblet und Pfeiffer vermitteln möchten: Online-Dating kann oft  absurd versetzt vom echten Leben daherkommen.

Der Satz "Bei Gefallen auch mehr" zieht sich durch das ganze Werk und wird immer wieder von verschiedenen Personen ausgesprochen. Was genau "mehr" ist, bleibt unklar.

Während sich anfangs noch verschiedene Erzählebenen ausmachen lassen und die Mutter als der zentrale Punkt in der Geschichte eine gewisse Richtlinie vorgibt, kommt der narrative Faden im Laufe des Buches abhanden.

Dann haben wir nur noch Bilderabfolgen, auf jeder Seite jeweils vier. Penisse und Vaginen, Sexszenen in aufdringlichen Farben,  Dialogfetzen. Erinnerung, Vorstellung, Gegenwart vermischen und lassen sich nicht mehr klar unterscheiden. Eine Mix aus Fiebertraum und Drogentrip. Das ging mir definitiv über zu viele Seiten. Und ja, jetzt kann man wieder sagen, dass ja genau DAS das Thema ist, die ermüdende, niemals endende Suche nach Liebe, Sex, Erfüllung, IRGENDWAS - das ist anstrengend und zermürbend und irgendwie surreal. All das, was wir fordern und was wir mit uns machen lassen. Was passiert, wenn wir das, was wir wollen, in Aussicht gestellt bekommen. Etc pp. Ich bin offen für surreale Ausflüchte, aber ich habe mich gefragt, wo sie in "Bei Gefallen auch mehr…" eigentlich hinführen. Ein Comic braucht in Bezug auf die Story nicht unbedingt eine Linearität, das ist ja gerade das tolle am Medium. Es braucht allerdings zumindest einen narrativen Rahmen - und dieser wird hier einfach irgendwann links liegen gelassen und nicht wieder aufgegriffen. Für mich verliert sich der Comic zu sehr im abstrakten Bilderrausch.

"Das Leben ist kein Traum"

Der Comic ist im Austausch zwischen der belgischen Künstlerin Dominique Goblet und dem deutschen Künstler Kai Pfeiffer entstanden. 2017 ist bereits im avant-verlag Goblets großartiges Werk "So tun als ob heißt lügen" erschienen.

Kai Pfeiffer hat die ersten Seiten des Buches als Orientierung für die weitere Arbeit alleine gezeichnet, danach haben die beiden sich abwechselnd Seiten zugeschickt und gemeinsam den Comic entstehen lassen. Es gibt bestimmte Motive (Stichwort "Hummer"), die sich durch die 172 Seiten ziehen, und immer wieder neuartig interpretiert werden. Das Buch ist stilistisch bewusst uneinheitlich und die beiden Autoren haben sich über Blei- zu Filzstift, Aquarellmalereien und allem dazwischen richtig ausgetobt.

Ich hätte es bereichernd  gefunden, wenn die Arbeitsweise der beiden Künstler innerhalb des Buches erklärt worden wäre. Am Ende gibt es ein undurchsichtiges Kurz-Essay von Guy Marc Hinant, das etwas geschwollen formuliert, wie der Comic entstanden ist (Auszug: "Durch Akkumulation entsteht eine Bilderbank"). Hinant schreibt dort über die Geschichte, dass es am Ende "keine Unklarheiten mehr" gäbe. Hm, naja, würde ich jetzt nicht so ausdrücken, aber das ist dann wohl Ansichtssache.

"Sie war beinahe glücklich"

Vielleicht noch mal ein Schlenker zum Anfang, zur Serie aus dem Schweizer Fernsehen: die Leute im Publikum sahen durchweg ein bisschen dödelig aus, wie sie dort um die Aufmerksamkeit des Kandidaten gebuhlt haben, aber sie haben das gleichzeitig so ernst genommen und wurden auch gleichermaßen ernstgenommen, dass ich es seltsam berührend fand.

Goblet und Pfeiffers Blick auf diesen Wunsch, gesehen und ausgewählt zu werden, ist distanziert und irgendwie kalt. Kai Pfeiffer hat in einem Interview gesagt, dass die Texte aus den Online-Profilen im Buch echt sind, abgeschrieben aus real existierenden Profilen.  Pfeiffer und Goblet lassen sie surreal und manchmal lächerlich erscheinen, nie liebevoll. Im Grunde geht es auch nicht um Personen in diesem Buch. Die Charaktere spielen abstrakte Konzepte von "Einsamkeit" und "Kommunikation im 21. Jahrhundert" vor. Ich fand den Blickwinkel der beiden Autoren recht harsch und auch irgendwie herablassend, Identifikation schien nicht gewünscht zu sein. Ich hätte die schwammige Geschichte sicherlich noch eher "verzeihen" können, wenn die assoziative Bilderflut emotional etwas in mir ausgelöst hätte, aber der Comic bleibt auch auf der Gefühlsebene abstrakt und damit unnahbar.

Die Ausgabe des Comics selbst ist übrigens ein Traum für jeden Bibliophilen: wundervolles Großformat, der  Einband ist komplett matt gehalten. Das matte Papier liegt schön schwer in der Hand und ermuntert zum Drüberstreichen: Haptik ist 1a mit Sternchen.

Fazit:

"Bei Gefallen auch mehr…" ist ein interessantes Comic-Experiment zwischen zwei Künstlern zum Thema Online-Dating, das vielversprechend loslegt, dann aber unter dem Deckmantel des Abstrakten im Chaos versinkt und mich letztlich kalt gelassen hat. Weniger wäre hier vielleicht mehr gewesen.

Bei Gefallen auch mehr ...

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