Anibal 5 - Gesamtausgabe
- Schreiber & Leser
- Erschienen: August 2018
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Völlig enthemmt und unverklemmt!
Ist das Kunst, oder… ?
Ihr könnt Euch sicherlich denken, worauf diese Frage hinausläuft. Mit einem namhaften Autor wie Alejandro Jodorowsky sollte man eigentlich meinen, dass irgendwo ein künstlerischer Anspruch zu finden ist… sei es versteckt hinter esoterischen Doppeldeutigkeiten oder in verschwurbelten Phantasien, die nicht selten die Grenzen des Surrealen sprengen. Immerhin hat der gebürtige Chilene mit seinem „Incal“-Zyklus um John Difool einen Meilenstein in der Comic-Landschaft hinterlassen. Ebenso die inhaltlichen Ableger „Die Meta-Barone“ und „Die Techno-Väter“, die zwar nicht mehr vom genialen Moebius gezeichnet wurden, aber immer noch Jodorowskys Handschrift trugen. Bereits 1975 machte er sich als Regisseur unsterblich… wobei man besser sagen sollte Beinahe-Regisseur: Obwohl Alejandro Jodorowsky mit seinem interpretationsreichen Experimental-Western „El Topo“ (1970) offene Türen bei den begeisterten Kritikern einrannte, die die metaphorischen Deutungen im Akkord aus den abstrakten Bildfolgen sezierten und „Der Heilige Berg“ (1973) grotesk alle Regeln des gängigen Filmemachens blutgetränkt über Bord warf, sollte EINE Produktion sein persönliches Waterloo werden… die Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Epos „Dune“.
„Dune – Der Wüstenplanet“ erblickte 1984 tatsächlich das Licht der Welt, allerdings saß nicht Jodorowsky auf dem Regiestuhl, sondern David Lynch, der zuvor mit „Eraserhead“ und „Der Elefantenmensch“ für Aufsehen sorgte und für „Dune“ sogar George Lucas eine Abfuhr erteilte und die Regie von „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ ablehnte. Ein fataler Fehler… zumindest für Lynch. Das Werk ging an den Kinokassen baden und wurde für das Studio zum Fiasko. Für Jodorowskys zerschmettertes Herz ein wahrer Segen, obwohl er Lynch als Filmemacher mochte und respektierte. Nachdem er von seinen Kindern ins Kino geschleift wurde – wogegen er sich vehement wehrte – und sah, dass „Dune“ in seinen Augen gigantischer Murks war, wurde er darin bestärkt, dass SEINE Version des Stoffes die bessere war. Mit Jodorowskys ausufernden Visionen, die inszenatorisch jeden Rahmen eindrucksvoll gesprengt hätten, hatte die Roman-Adaption nichts gemeinsam. Die Geschichte, die er im Kopf hatte und die von Moebius in einem gewaltigen Storyboard verewigt wurde, welches Szene für Szene genau wiederspiegelte, welche Ausmaße „Der Wüstenplanet“ gehabt hätte, lag jedem großen Studio in Hollywood in gedruckter Form vor. Und jedes Studio war begeistert! Aber wollte man SO viel Geld in die Hand nehmen, um die abstrakten Visionen des potentiellen Regisseurs zu finanzieren? Keineswegs… zumindest DAS hat sich zum heutigen Hollywood nicht verändert.
Der Grund, warum ich hier groß und breit auf einen Film eingehe, der in seiner ursprünglich gedachten Form nie realisiert wurde, ist einfach: Nicht nur, dass sich Einflüsse von Alejandro Jodorowskys „Dune“ - dessen skizziertes Drehbuch ja bei jedem Studio im Tresor liegt – in jedem Sci-Fi-Streifen der letzten 40 Jahre wiederfinden und sich von „Alien“ über „Star Wars“ bis hin zu „Matrix“ nachweislich jede Produktionsfirma am gedruckten Ideen-Baukasten bedient hat, nein… auch Jodorowsky selbst hat SEINE Version von „Dune“ häppchenweise verarbeitet. Und zwar in Comic-Form! Durch alle seine Werke, die er als Comic-Autor veröffentlicht hat, fließen Motive, die er einst für sein Mammut-Projekt erdachte. Mit all den Fingerabdrücken, die „Dune“ medienübergreifend und augenscheinlich nicht sichtbar im Genre hinterlassen hat, macht ihn das wohl zum einflussreichsten Science-Fiction-Film, der nie gedreht wurde.
Cyber-Inspector Gadget
Inwieweit die Einflüsse auch in „Anibal 5“ vorhanden sind, lässt sich für mich nicht festmachen. Sollten sie vorhanden sein – und davon gehe ich mal stark aus -, komme ich wieder auf meine Eingangsfrage aus dem vorigen Absatz… und musste mich dabei auf den unausgesprochenen Teil beziehen.
Von Bord des Flaggschiffs der „Vereinten Verteidigung Europas“ (kurz: V.V.E.), welches weit entfernt im All schwebt, erhält der Cyborg-Agent „Anibal 5“ regelmäßig seine neuen Befehle, die ihn ebenso regelmäßig in neue Abenteuer katapultieren. Auftraggeber ist ein alter Knabe namens Pinker Typer, dessen Hirn mit dem Bordcomputer verbunden ist… außerdem jongliert er stetig ein junges Androiden-Mädchen auf seinem Schoß, was mich irgendwie an seiner Seriosität zweifeln lässt. Ständig in Funkkontakt mit dem Schiff, lässt „Anibal 5“, der mit allem technischen Schnickschnack ausgestattet ist und anscheinend das komplette Arsenal aus allen bisherigen UND noch kommenden „James Bond“-Filmen in seinem gestählten Körper verbaut hat, sein Team bei jeder Gelegenheit – und sei sie noch so unpassend – wissen, dass er mal wieder keinen Bock auf seine Arbeit hat und sich lieber anderweitig betätigen würde (*knick-knack*). Intergalaktische Bedrohungen und terroristische Aktivitäten dienen eh nur als Aufhänger, um die meist weiblichen Antagonistinnen nach allen Regeln der triebgesteuerten Kunst in die Waagerechte zu befördern. Die Ruhepausen zwischen den Einsätzen werden übrigens genau so genutzt. „Anibal 5“ von seinen „Marilyn Monroebots“ zu hieven wird für alle Beteiligten ebenso anstrengend, wie der Konsum der banalen Stories für den Leser.
Penetrator 2: Flutschment Day
Dass Alejandro Jodorowsky in seinen Werken nicht selten die Grenzen auslotet und damit provoziert und polarisiert, liegt auf der Hand. Und obwohl er mit „Anibal 5“ den amerikanischen Superhelden lachend den Mittelfinger zeigt und dem Sockel, auf dem diese übermenschlichen Lichtgestalten thronen, mit drei Tonnen Dynamit zu Leibe rückt, ist die Zündschnur im vorliegenden Fall deutlich zu kurz. Hier bläst sich der Autor – zusammen mit seinem testosterongesteuerten Sexprotz – selbst in die Luft. ZU plump ist die Darstellung des nimmersatten Machos, der alles gnadenlos wegknallt, was sich nicht bei Drei in den Keuschheitsgürtel gerettet hat. Hier werden Macho-Klischees nicht parodiert, sarkastisch überzeichnet, geschweige denn angeprangert… sie werden zelebriert. Zelebriert, bis zum wortwörtlichen Erguss. Das Finale, welches einer Vergewaltigungs-Fantasie nicht nur nahe kommt, sondern eindeutig als diese zu verstehen ist, setzt dem bumsfidelen Nonsens dann noch die genoppte Krone auf.
In Szene gesetzt wurde dieses krude Sci-Fi-„Abenteuer“ vom Zeichner Georges Bess. Der 1947 geborene Franzose, der nach einem Umzug nach Schweden für das „MAD“-Magazin und die Comic-Reihe „Das Phantom“ zeichnete, lernte sein Handwerk vom großen Moebius (alias Jean Giraud), den er bereits in den 60er-Jahren kennenlernte. Dessen Einflüsse sind in Bess‘ Stil deutlich zu finden, was „Anibal 5“ zumindest optisch über den Durchschnitt hebt. Auch bei der Kolorierung erinnern die oftmals großflächig eingefärbten Panels an die Arbeiten des Altmeisters. Zuvor arbeiteten Bess und Jodorowsky bereits am monumentalen Comic-Epos „Das weiße Lama“ zusammen und ebenso bei der zweibändigen, brutalen Gangster-Geschichte „Juan Solo“, die allerdings beide atmosphärischer in ihrer Gestaltung wirkten.
Fazit:
Eine qualitativ gelungene Gesamtausgabe, des bereits in den frühen 90ern entstandenen Comics, aus dem Schreiber & Leser Verlag, die hochwertig verarbeitet ist und im Bonusteil des Hardcovers noch Skizzen und Charakter-Entwürfe präsentiert… wenn nur der Inhalt nicht wäre. Selbst als gedachte Parodie kann „Anibal 5“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine zotige, sexistische und mehr als fragwürdige Ansammlung von Obszönitäten handelt, die diese Fakten auch offenherzig und stolz aus der Hose baumeln lässt.
Alejandro Jodorowsky, Georges Bess, Schreiber & Leser
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