Eine Frau und ihre Welten
Mittelschichthausfrau oder freie Künstlerin?
Das Leben von Anaïs Nin könnte das perfekte Mittelschichtmärchen Anfang des 20. Jahrhunderts sein. Sie lebt mit ihrem Mann in einem großen Haus in einer Pariser Vorstadt. Da ihr Mann Hugo Bankier ist, genießen sie ein komfortables Leben, voller Dinnerpartys mit gehobenen Gästen. Aber die beiden sind im Herzen auch Künstler und wollen ihr bourgeoises Leben mit ein bisschen Bohème füllen. Sie pflegen den Umgang mit Schriftstellern, Tänzern und anderen Kreativen. Doch das ist nicht das Leben, das Anaïs sich vorgestellt hat. Sie ist mit voller Seele Künstlerin. Doch über Essays oder ihre Tagebücher hinaus schafft sie es nicht, zu schreiben. Ihr erster Roman scheint ihr ungreifbar in weiter Ferne zu schweben.
In Léonie Bischoffs biografischem Comic begleiten wir Anaïs, wie sie versucht, ihrem Leben einen Sinn zu geben und ihren Platz in der Welt sucht. Ist sie die brave Bankiersfrau oder die freie, freiheitsliebende Künstlerin? Oder kann sie womöglich beides sein? Sie führt eine doppelte Buchführung sozusagen, denn sie schreibt gleichzeitig in zwei Tagebüchern. Eins für die Außenwelt, das sie auch offen mit ihrem Mann teilt. Das andere ist für sie allein, wo sie ihre geheimsten Emotionen und Phantasien auslassen und ausleben kann. Und genauso führt sie auch ihr Leben.
Der Blick ins Innere
So wenig, wie Anaïs wirklich weiß, welches Leben ihr eigentliches Ich widerspiegelt, wird das dem Leser auch erklärt. Das ist meiner Meinung nach eine der Stärken von Bischoffs Comic. Denn sie versucht nicht, ihre Hauptfigur zu simplifizieren, sodass wir als Leser diese vielleicht einfacher verstehen könnten. Die Autorin lässt Anaïs eine vielschichtige – und auch teilweise widersprüchliche – Person sein. Das hat zwar manchmal dazu geführt, dass ich von ihrer Art oder ihren Entscheidungen frustriert war. Aber Menschen sind nun mal frustrierend.
Dadurch, dass der Comic aus der Sicht von Anaïs erzählt wird, haben wir nur ihre Sicht auf die Dinge. Dadurch bekommen wir einen guten Einblick in ihre Person, aber weil sie so vielschichtig ist und sich manchmal selbst widerspricht, weiß man am Ende nicht, was wirklich ist. Sind ihre Affären mit jedem Mann, dem sie begegnet real? Oder sind es Abbilder ihres Begehrens und ihrer intimsten Wünsche?
Verträumt-realistisch, bis zum Zeichenstil
Der Zeichenstil ist mein absolutes Highlight an diesem Comic, der eine Mischung aus cartoonig und realistisch vereint. Die Figuren haben wenig detaillierte Gesichter, dafür aber sehr ausdrucksstarke Züge. Doch mein Lieblingsaspekt der Bilder ist, dass Léonie Bischoff zum Zeichnen einen Stift mit verschiedenfarbiger Mine verwendet hat. Anaïs Haare sind z.B. nicht nur dunkel, sondern haben rote, grüne, orangene und blaue Strähnen. So wirkt der ganze Comic super bunt, ohne dass es ins Kitschige gerät. Denn eigentlich sind die meisten Bilder sehr karg, was Farben angeht. Meistens sieht man die Figuren und ein bisschen Hintergrund. Aber nichts ist auskoloriert. Nur die Striche, mit denen die Figuren gezeichnet sind, sind eben bunt und die Farben fließen in einem Strich ineinander.
Der verträumte Zeichenstil steht aber im krassen Kontrast zu den teilweise sehr expliziten Sexszenen, die hier nicht nur oft, sondern über mehrere Panels – teils über mehrere Seiten – gezeigt werden. Doch das ist das Wesen von Anaïs Nin und ihren Werken, und dieses bringt Léonie Bischoff mit ihren Zeichnungen sehr gut auf den Punkt.
Fazit:
„Anaïs Nin – Im Meer der Lügen“ ist ein gelungenes Porträt einer vielschichtigen und teilweise widersprüchlichen Frau. Denn einerseits will sie die Menschen, die sie liebt, verschonen. Trotzdem kann sie ihre Gefühle und ihr Verlangen nicht unterdrücken. Léonie Bischoff schafft es nicht nur durch ihre Erzählung, sondern vor allem durch ihre Bilder, dem Leser diese Frau ein Stück weit näherzubringen.
Léonie Bischoff, Léonie Bischoff, Splitter
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