„Sie ist nun frei und unsere Tränen wünschen ihr Glück“ – Johann Wolfgang von Goethe
„Who Wants to Live Forever?“
Eine interessante Frage, die die britische Band „Queen“ schon 1986 im Rahmen ihres „Highlander“-Soundtracks in den Raum warf. Ewig leben? Naja… Ein Blick in die täglichen Nachrichten reicht, um zu erkennen, dass „Ewig“ wohl eher relativ ist und die Zeitspanne, bis die Menschheit sich selbst in den Orkus bläst, absehbarer wird. Möchte man also ewig leben und Zeuge des Ausmaßes werden, wenn ein Größenwahnsinniger den roten Knopf drückt (was hoffentlich noch ein paar Jahre dauert… aber WENN, wird er es sicher via Twitter ankündigen)? Die polaren Eiskappen gänzlich geschmolzen, die Länder überflutet sind und wir in ‘ner Ananas ganz tief im Meer wohnen? Das Ozonloch uns freie Sicht auf den Mars gewährt? Der Sommer in den Winter fällt und auch das letzte Bäumchen abgeholzt ist? Nö… nicht wirklich. „Ewig“ ist halt schon verdammt lang… aber ein bisschen dauern darf es schon noch, bis man dieser Welt den Rücken kehrt. Vor allem, da sie abseits aller Katastrophenmeldungen und Untergangs-Szenarien SO viel zu bieten hat. Und wer möchte als Unsterblicher schon jedem, der mit einem Schwert bewaffnet den Weg kreuzt, die Rübe vom Hals kloppen? Richtig… Niemand. Genießen wir also - im Sinne von Connor MacLeod (vom Clan der MacLeods) - die Zeit, die wir noch haben und erfreuen wir uns an dem, was das Leben zu bieten hat, denn… es ist eine Art Magie.
Das Leben genossen hätte auch das junge Mädchen Alisik sehr gerne, doch leider hatte das Schicksal etwas anderes mit ihr vor. Als die Teenagerin in tiefster Nacht die Augen aufschlägt, befindet sich nicht etwa in heimischer Geborgenheit, im wärmenden Bett ihres Zimmers. Nein, sie liegt in einem Sarg auf dem städtischen Friedhof. In IHREM Sarg. Zuerst noch voller Hoffnung, dass es sich nur um einen schrecklichen Albtraum handelt, realisiert sie bald, dass sie mit der bitteren Wahrheit konfrontiert wird… spätestens als sie niedergeschlagen und zusammengekauert auf dem Boden der Tatsachen hockt und auf die Buchstaben blickt, die den Grabstein vor ihren entsetzten Augen verzieren: ALISIK.
„With a Little Help from My Friends“
Um nicht vollkommen den Verstand zu verlieren, bekommt Alisik direkt nach ihrem Erwachen auf dem Friedhof Unterstützung von einer illustren Truppe, die einem düsteren Tim Burton-Märchen entsprungen sein könnte. Die sogenannten „Postmortalen“, fünf an der Zahl… zumindest auf DIESEM Friedhof, nehmen das erschrockene Mädchen an die Hand und erklären ihr, dass Alisik – und sie selbst – sich in einer Zwischenwelt befinden… quasi auf einem Abstellgleis. Und zwar so lange, bis von „höherer Stelle“ entschieden wird, in welche Richtung die letzte Reise geht. Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht gefallen, doch ohne Grund landet man nicht in der Warteschleife zum Jenseits. Was ist also im Leben des jungen Mädchens vorgefallen und welche Umstände führten zu ihrem vorzeitigen Ableben?
Zunächst ungläubig, merkt Alisik schnell, dass es keinen Zweck hat, die Tatsachen zu leugnen. Ihr planloser Streifzug durch die Nacht liefert ihr genügend Beweise, dass ihr menschliches Umfeld sie nicht wahrnehmen kann. Bis auf… Ruben. Ein Junge, der nachts mit seinem Hund über den Friedhof spaziert und die Plaudereien zwischen Alisik und den Postmortalen hören kann. Anstatt jedoch beim Anblick der skurrilen Gesellschaft in Panik zu verfallen, entwickelt sich ein annäherndes Gespräch zwischen Alisik und Ruben. Der Grund, warum der Junge nicht das Weite sucht ist einfach… er verlor bei einem Unfall sein Augenlicht und ahnt nicht, dass Alisik zwischen den Welten wandelt. Eine seltsame und besondere Verbindung entsteht zwischen den Beiden. Doch… existiert eine Liebe über den Tod hinaus tatsächlich?
„Always Look on the Bright Side of Life"... or... Death
Eines vorweg: „Alisik“ hat mich eiskalt erwischt. Anders, als das Cover vielleicht suggerieren könnte, bekommt der Leser hier KEINE mangaesque Love-Story, die vornehmlich auf ein junges, weibliches Publikum zugeschnitten ist, serviert. Autor Hubertus Rufledt legt hier zusammen mit seinem Co-Autoren Helge Vogt ein waschechtes Mystery-Drama aus deutschen Landen vor, das sich über vier Bände erstreckt und schon im Auftakt „Herbst“ zeigt, dass herzzerreißende Tragik, mitschwingende Melancholie, zart-romantische Anflüge und morbide Situationskomik hervorragend miteinander harmonieren. Alisiks Geschichte ist einfühlsam geschrieben und man möchte dem hilflosen Mädchen am liebsten Mut zusprechen und ihr zerbrechliches Wesen vor weiterem Übel bewahren. Man möchte meinen, dass sie das Schlimmste schon überstanden hat… schließlich ist sie tot… doch die Ursachen liegen noch verborgen im Dunkeln. Auch das Schicksal ihrer aktuellen Heimat, dem städtischen Friedhof, steht auf dem Spiel und bereits kurze Auszüge in den Kapiteln werfen ihre dunklen Schatten voraus. Man merkt, dass hier Fäden gesponnen werden, die im Laufe der weiteren Geschichte unweigerlich zusammenlaufen werden. Und dann ist da noch das grandiose Artwork…
Co-Autor Helge Vogt hat gleich selber den Stift in die Hand genommen und erschafft eine eigene Welt, irgendwo verankert zwischen Street-Art und nostalgisch-gotischem Charme. Bei aller Düsternis, die mal warm und weich, mal rau und kühl daherkommt, entfacht Vogt ein kleines Feuerwerk von leuchtenden Farb-Akzenten, die der Welt von „Alisik“ einen einzigartigen Anstrich verleihen. Auch beim Charakter-Design beweist der Künstler, der auch Roman-Cover wie beispielsweise „Percy Jackson“, „Die drei ???“ und „Helden des Olymp“ illustriert, das richtige Feingefühl. Seine Alisik wirkt mit ihren großen Kulleraugen, ihrem an eine Porzellan-Puppe erinnernden Äußeren und ihrer unschuldigen Art zerbrechlich und schutzbedürftig. Diesen findet sie auch in ihren neuen Weggefährten, die schon eine ganze Weile auf dem Friedhof ihr Unwesen treiben und auf die finale Erlösung warten. Die fünf Postmortalen sind einfallsreich gestaltet und erinnern an liebenswerte Sidekicks aus besten Disney-Zeiten. Jeder skurrile Charakter verfügt über seine speziellen Eigenheiten und es macht einfach Spaß, diesen sympathischen Gesellen beim Agieren zuzuschauen… vor allem, da sie trotz aller gebotenen Tragik – was zum Teil auch ihre eigene Vergangenheit betrifft –mit leichtem Humor immer wieder Lichtblicke in die düstere Friedhofswelt bringen und den freien Fall in die Melancholie gekonnt abfedern.
Fazit:
Die schon komplett in vier Bänden vorliegende Reihe ist im Carlsen Verlag erschienen, kommt im handlichen Taschenbuch-Format und ist bereits für einen schmalen Taler zu haben. Trotz guter Verarbeitung und Papierqualität hätte man sich ein größeres Format gewünscht, damit die wunderbaren Illustrationen von Helge Vogt noch besser zur Geltung kommen. Ein kleiner Wehrmutstropfen, aber wer weiß? Vielleicht steht ja irgendwann Mal eine Gesamtausgabe an, die dieses einzige, kleine Manko ausbügelt.
Ende Februar 2018 schaffte es „Alisik“ sogar über den großen Teich und wurde in den USA vom Titan Comics-Imprint Statix Press auf den Markt gebracht. Die dortige Presse bezeichnete die Mystery-Romanze als Mischung aus Tim Burtons „The Corpse Bride“ und „The Nightmare Before Christmas“ und führte zudem Vergleiche mit den Werken von Neil Gaiman an. Holla… DAS ist doch mal ein Wort, das ich so nur unterschreiben kann.
Hubertus Rufledt, Helge Vogt, Helge Vogt, Carlsen
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