Schwarz. Breit. Stark.
Hart-gekocht
Geschichten über Ex-Bullen, die sich als Privatdetektiv durschlagen, um sich über Wasser zu halten und mal mehr mal weniger schlüpfrige Jobs für ihre Auftraggeber erledigen, gab es einst wie Sand am Meer. Sam Spade oder Philip Marlowe sind wohl die bekanntesten Haudegen der alten Hard-Boiled-Detective-Schule, doch auch der 70er-Jahre-Inbegriff der Coolness John Shaft und Lee Childs Ex-Militärpolizist Jack Reacher gehören dieser aussterbenden Gattung an. Im Comic-Genre im weitesten Sinne durch Alex Raymonds Gentleman-Detektiv Rip Kirby vertreten, treffen wir abgebrühte Ermittler auch in Frank Millers Sin City und tauchen zu imaginären Jazz-Klängen in die anthropomorphe Welt von Blacksad ein. Auch Alack Sinner fügt sich perfekt in die Riege der genannten Charaktere ein und ist ein Paradebeispiel für die Schnüffler-Zunft, die allerdings tiefgründiger und vielschichtiger ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte.
Gleich in der ersten Geschichte, „Plaudern mit Joe“, erzählt Alack, wie es zu seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst kam. Sinner stellt sich gegen seine Kollegen. Ein korrupter, gewalttätiger Haufen. Nicht nur die Strafversetzung in die Leichenhalle, sondern auch die Vergewaltigung seiner Schwester Toni, die direkt vor ihrer eigenen Haustür brutal überfallen wird, tragen zu seiner Entscheidung bei, den Dienst endgültig zu quittieren. Nach kurzer Aus- und Überlegungszeit entscheidet sich Sinner, die Lizenz zum Detektiv zu erwerben. Trotz Polizei-Vergangenheit gehen erste Aufträge in die Hose. Kleine Aufträge, nichts Weltbewegendes. Ein dicker Fisch ist hingegen „Der Fall Webster“. Der Direktor einer Werbeagentur, Calvin Webster, wird bedroht und stößt dank Sinners markanten Namens auf den frischgebackenen Schnüffler. Die anfänglich nur geschmacklosen Scherze übersteigen dieses Niveau schon bald und der Detektiv sieht sich mit der ersten Leiche in seiner noch jungen Detektiv-Karriere konfrontiert. In „Fillmore“ wird Alack Sinner von einer jungen Frau aus reichem Hause engagiert, deren Eltern sie mit dem Sohn des Richters verheiraten wollen… gegen ihren Willen. Katty Fillmore offenbart sich Sinner und erzählt ihm, dass ihr Großvater von ihren Eltern gegen seinen Willen in einer Klinik festgehalten wird. Kaum nötig zu erwähnen, dass der alte Herr Geld wie Heu besitzt und sein Ableben die Kasse der liebenden Eltern von Miss Fillmore zum Klingen bringen würde.
Nach diesem Schema verlaufen die ersten Kapitel des wuchtigen Buches. Neuer Tag, neuer Fall. Doch dabei bleibt es nicht, denn im Laufe der Geschichten, die zwischen 1975 und 2006 entstanden, verändert sich nicht nur die Welt und ihr Geschehen, sondern auch Alack Sinners Blick auf diese. Sinner altert. Sein Gesicht wird zusehends zerfurchter, während die Handlung das aktuelle Weltgeschehen aufgreift. Dabei driftet Sinner ab, beobachtet seine Umgebung und schaut zurück, sodass man sich am Ende wie am Ziel einer langen, gemeinsamen Reise fühlt. Amerika im Wandel der Zeit, gesehen durch die Augen eines zynischen, mal desillusionierten, dann wieder hoffnungsvollen Mannes, der durch alle möglichen Höhen und Tiefen geht. Ein Weggang von der episodenhaften Erzählstruktur, die einer epischen Weite des Geschichtenerzählens weicht.
Don't Cry for Me Argentina
Geschaffen wurde „Alack Sinner“ vom Autoren Carlos Sampayo und dem Zeichner José Muñoz, die neben dieser langjährigen Zusammenarbeit noch zahlreiche weitere Projekte gemeinsam realisierten. Durch die bürgerkriegsartigen Zustände in ihrem Land, in dem Mitte der 70er-Jahre ein ultranationalistischen Militärregime regierte, flüchteten die beiden Argentinier Sampayo und Muñoz ins Exil. Hauptsächlich entstand „Alack Sinner“ in Spanien, Italien und Frankreich.
José Muñoz studierte bei Künstlern wie Hugo Pratt („Corto Maltese“) und Alberto Breccia („Eternauta 1969“, „Lovecraft“), bevor er 1974 Carlos Sampayo kennenlernte. Zwei Jahre später wurde die erste „Alack Sinner“-Geschichte in einem französischen Magazin veröffentlicht. Künstlerisch könnte man Muñoz‘ Stil als rau und dreckig beschreiben. Dem Noir-Genre durchaus angemessen und wie es sich gehört, gänzlich in schwarz-weiß. Grauabstufungen gibt es nicht. Durchaus experimentell geht Muñoz bei der Physiognomie seiner Charaktere vor. Mal kantig, mal schwungvoll, dann wieder expressionistisch und voll auf den harten Kontrast setzend. Dies mag vielleicht nicht jedem Leser gefallen, funktioniert bei der hier gebotenen Thematik jedoch hervorragend. Der großflächige Einsatz schwarzer Tusche und das damit einhergehende Schattenspiel entfacht einen regelrechten Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann, wenn man einmal die Welt von Alack Sinner betreten hat und beginnt, diese durch seine Augen zu sehen.
Altbekanntes und viel Neues
Zwischen 1989 und 2001 erschienen insgesamt drei Bände der „Alack Sinner“-Reihe im Schweizer Verlag Edition Moderne. Zusammengefasst wurden diese noch einmal in einer rund 400 Seiten starken Trilogie. Der bisher bekannte Inhalt befindet sich selbstverständlich auch in der Gesamtausgabe des Avant-Verlags, die zudem gut 300 Seiten an bisher in Deutschland unveröffentlichtem Material enthält. Somit vereint das opulente Hardcover, welches passenderweise in sattem Schwarz mit rotem Schriftzug daherkommt, alle 18 Geschichten, die zwischen 1975 und 2006 entstanden. Der letzten Seite sind noch die Künstlerbiografien gewidmet, bevor man den hochwertigen Wälzer (2,25 kg!) nach mehreren Stunden, Tagen oder Wochen (je nach Lesetempo, aber in einem Rutsch so gut wie unmöglich zu bewerkstelligen) zufrieden - und um eine Comic-Klassiker-Erfahrung reicher – zuklappt.
Fazit:
Eine Gesamtausgabe, die ihrem Namen alle Ehre macht. Nach langer Zeit der Unvollständigkeit liegen die kompletten „Alack Sinner“-Geschichten von Carlos Sampayo und Zeichner José Muñoz erstmals vollständig vor. Freunde von Comic-Klassikern und Hard-Boiled-Noir-Stories kommen um diesen Band nur schwer vorbei… was nicht nur an dessen Größe und Umfang liegt.
Carlos Sampayo, José Muñoz, Avant
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