Jidi und Ageng
09.2020 Im deutschsprachigen Raum liegt nun - dank des Schweizer Verlages Chinabooks - die sechsbändige Reihe „Der freie Vogel fliegt“ komplett vor. Dieses wunderschöne Werk stammt von den beiden chinesischen Künstlerinnen Jidi und Ageng, die für ihre Arbeit schon mehrfach im In- und Ausland ausgezeichnet wurden. In ihrer Heimat hochbekannt und -geschätzt, gehören sie zu den auflagenstärksten Vertreterinnen im Manhua-Bereich. Wir von der Comic-Couch freuen uns sehr, ihnen einige Fragen zu ihrer Arbeit und ihrem gemeinsamen Debüt stellen zu dürfen.
"Comics sind die Art von Büchern, die Filmen am nächsten kommen."
Comic-Couch:
Jidi, zuerst muss ich Ihnen sagen, wie sehr mich „Der freie Vogel fliegt“ beeindruckt hat. Obwohl, speziell auf das Schulsystem bezogen, sehr große kulturelle Unterschiede zu sehen sind, scheint die Sprache der Geschichte universell zu sein. Liegt dies, Ihrer Meinung nach, am visuellen Medium des Comics oder daran, dass wir trotz unterschiedlicher Prägung alle die gleichen Sehnsüchte, Wünsche und Träume haben?
Jidi:
Als ich in Deutschland unterwegs war, habe ich auch viele deutsche Freunde nach ihren Erfahrungen gefragt, wie es war, erwachsen zu werden. Tatsächlich gibt es da keine derart großen Unterschiede, wie ich mir vormals vorgestellt hatte. Alle Kinder erfahren Druck durch ihre Eltern und von den schulischen Leistungsanforderungen. Ich habe immer den Eindruck, dass Menschen trotz kultureller Unterschiede stets ähnliche Erfahrungen während ihres Heranwachsens machen. Kinder in jedem Land machen eine Phase der Rebellion durch, wenn sie erwachsen werden. Sie widersetzen sich Autoritäten, empfinden Regeln und Konventionen als unerträglich und suchen dann nach den Dingen im Leben, die sie lieben, und finden einen Weg, der zu ihnen passt. Gerade aufgrund dieses Prozesses ist die gegenwärtige Welt so tolerant und aufnahmefähig, vielfältig und farbenfroh.
Comic-Couch:
„Der freie Vogel fliegt“ basiert auf Ihrem erfolgreichen Roman, der in Ihrer Heimat 2008 erschienen ist. Wie schwer war es, die Geschichte für einen Comic umzuschreiben? Mussten Sie viele Änderungen oder sogar Kürzungen vornehmen?
Jidi:
Zum Zeitpunkt des Schreibens an diesem Roman war ich sehr jung. Ich hatte das starke Bedürfnis, meine Erfahrungen aufzuschreiben. Ich bin Comic-Künstlerin und es ist für mich nicht besonders schwierig, Romane zu Comics zu adaptieren. Es ist eigentlich ein sehr interessanter Prozess. Ich habe immer das Gefühl, dass alle Figuren (in der Geschichte) ihre jeweiligen spezifischen Entwicklungsmöglichkeiten besitzen. Die Geschichte im Roman ist grausamer und realistischer, während die Darstellung im Comic etwas idealistischer sein kann, so dass sich die Ausgänge der Schicksale einiger Charaktere im Comic von denen des Romans unterscheiden.
Comic-Couch:
In Kürze wird von Chinabooks auch Ihr Debüt aus dem Jahr 2004, „Mein Weg“, erstmals komplett für den westlichen Markt veröffentlicht. Dieses mehrbändige Projekt stemmten Sie im Alleingang, als Autorin und Zeichnerin. Für „Der freie Vogel fliegt“ holten Sie sich Unterstützung. War es von Anfang an klar, dass Sie die Geschichte nicht selbst künstlerisch adaptieren wollten?
Jidi:
Am Anfang wollte ich die Geschichte nur in Romanform niederschreiben, und ich habe selbst einige Illustrationen gezeichnet, aber ich habe nie daran gedacht, sie als Comic zu zeichnen. Aber dann habe ich Ageng getroffen. Wenn sie nicht wäre, hätte ich niemals in Betracht gezogen, diese Geschichte in einen Comic umzuwandeln. Sie ist eine ausserordentlich talentierte Comic-Künstlerin und ich mag ihre Zeichnungen sehr. Als sich durch eine zufällige Gelegenheit ein Zusammentreffen ergab, sprach sie über ihren Wunsch, eine sehr reale Comic-Geschichte über die Jugend- und Schulzeit zu zeichnen. Ich ließ sie meinen Roman lesen. Die Geschichte hat sie sehr berührt. Wir haben uns sofort verstanden und uns schnell entschlossen, den Roman gemeinsam zu einem Comic zu adaptieren. Das war wirklich ein sehr freudenreicher Prozess.
Comic-Couch:
Ageng, im sehr informativen Nachwort des ersten Bandes steht, dass Sie 10 Jahre an der Umsetzung gearbeitet haben. Und Ihre Bilder sind durchgängig auf einem bemerkenswerten Niveau! Verlässt einen als Künstler nicht manchmal die Motivation, bei einem solch zeitaufwendigen Projekt?
Ageng:
Seit ich ein Kind war, etwa ab dem dritten Lebensjahr, konnte ich den Pinsel niemals mehr aus der Hand legen. Das Bedürfnis zu malen ist mir angeboren, deshalb gibt es für mich nichts Beängstigenderes, als nicht mehr malen zu können. Obwohl das Zeichnen von Comics eine Tätigkeit ist, der viel körperliche Kraft und Energie erfordert, werde ich aufgrund meiner Leidenschaft für das Malen dessen niemals überdrüssig, und ich mag das auf dem Originalwerk basierende Skript sehr und bringe dieser Arbeit eine große Wertschätzung entgegen.
Comic-Couch:
Zwischen Ihnen und Jidi ist während der gemeinsamen Umsetzung eine enge Freundschaft entstanden. Kann man sagen, dass Sie sich gesucht und gefunden haben? Dass Sie sich nicht nur bei der Arbeit perfekt ergänzen, sondern auch menschlich auf einer Wellenlänge sind?
Ageng:
Ich schätze einige von Jidis Ansichten und Methoden sehr. Sie besitzt eine scharfe Beobachtungsgabe der menschlichen Zivilisation und der Dinge, dies mittels unterschiedlicher Methoden und aus verschiedenen Perspektiven. Und sie besitzt eigene einzigartige Einsichten zum Thema Liebe. Wir konnten während der gemeinsamen Arbeit voneinander lernen und sind daran gewachsen. In der Anfangsphase unserer Zusammenarbeit habe ich stark von Jidis fachlichem Rat profitiert. Aus ihren Vorschlägen habe ich viele Methoden zur Aneignung von Fertigkeiten erhalten, über die ein professioneller Comic-Künstler verfügen muss, erhalten. In Bezug auf unsere Persönlichkeit sind wir sehr unterschiedlich. Ich bin lebhafter und extrovertierter, sie ist ruhiger und zurückhaltender. Aber ich finde es gut, dass wir so unterschiedlich sind. Es ermöglicht uns, uns gegenseitig (in unseren Eigenschaften) zu ergänzen und klarer zu erkennen, was den anderen auszeichnet.
Jidi:
Ageng ist eine liebenswerte Person mit einem warmen Herzen. Ihr Charakter ist völlig anders als meiner. Ich bin in grosser Einsamkeit aufgewachsen. Deshalb ziehe ich es vor, hinsichtlich sämtlicher Angelegenheiten meine eigenen Entscheidungen zu treffen. Meistens konzentriere ich mich sehr auf die Arbeit und mein Leben ist sehr karg. Ageng ist ist ein sehr warmherziger Mensch, der sich um andere kümmert und sehr kooperativ ist. Hinsichtlich ihrer eigenen künstlerischen Arbeit kann sie manchmal sehr beharrlich auf ihren eigenen Standpunkten bestehen, aber sie hat meine Entscheidungen immer sehr respektiert. Sie war bereit, viel Zeit aufzuwenden, um meine Gedankengänge nachzuvollziehen. Ich denke, während der Zusammenarbeit war sie vielleicht viele Male sauer auf mich, aber das hat sie niemals davon abgehalten, ihr Bestes zu geben, um die Arbeit fertigzustellen. Ich bin ihr dafür wirklich zutiefst dankbar.
Comic-Couch:
In „Der freie Vogel fliegt“ erzählt Jidi semi-autobiographisch aus ihrer Kindheit und Jugend. Ist bei der Adaption auch etwas von Ihnen in die Hauptfigur Lin Xiaolu eingeflossen?
Ageng:
Wobei mein Grundsatz stets war, den Respekt vor dem Originalwerk zu wahren, habe ich einige Symbole, die für meine eigenen Erinnerungen stehen, in das Werk eingebracht. Zum Beispiel habe ich in der Anordnung der Figuren in den Bildhintergründen der Comics Menschen aus meinem vertrauten Umfeld verewigt, wie meinen Mann, der als Passant, als Straßenhändler und in anderen drolligen Rollen einen Aufritt hat. In der Rolle der Lin Xiaolu spiegeln sich Prozesse wieder, wie sie die meisten Kinder während des Erwachsenwerden durchlaufen, deswegen habe ich ein tiefes Gefühl, dass auch ich auch ähnliche Teile in mir trage, daher empfand ich während des Schaffungsprozesses eine große Vertrautheit und Zuneigung gegenüber dieser Figur, habe ich in die Darstellung der Figur der Lin Xiaolu besonders viel Herzblut gesteckt.
Comic-Couch:
„Der freie Vogel fliegt“ zählt zur chinesischen Comic-Form Manhua. Uns westlichen Lesern noch nicht allzu bekannt, muss ich gestehen, dass die Reihe zu den ersten Vertretern dieses Genres zählt, die mir in die Hände fielen… umso begeisterter bin ich von der gebotenen Qualität. Japanische Manga sind hingegen im deutschsprachigen Bereich weitaus geläufiger. Wie würden Sie die Unterschiede zwischen Manhua und Manga beschreiben? Gibt es überhaupt Parallelen oder handelt es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Kunstformen?
Jidi:
Comics sind die Art von Büchern, die Filmen am nächsten kommen. Die früheste chinesische Landschaftsmalerei ähnelt einer Filmrolle. Alte chinesische Maler haben in diesen langen Bildrollen einen Lebensabschnitt und eine Gefühlswelt festgehalten. Zeitgenössische japanische Comics haben sich tatsächlich allmählich aus der Maltradition der alten chinesischen Landschaftsmalerei entwickelt. In der Nachkriegszeit hatten die Menschen ein besonders starkes Bedürfnis nach Unterhaltung, und die Film- und Fernsehindustrie war noch nicht so entwickelt. Zu dieser Zeit legte der japanische Manga eine rasante Entwicklung hin und brachte viele Kunstwerke hervor, die imstande sind, die Menschen in ihrem Innersten zu bewegen. Leider kann ich die japanischen Mangas der letzten Jahre kaum noch als „Kunst“ bezeichnen. Comic-Künstler, die eine eigene Individualität besitzen, sind kontinuierlich weniger geworden, solche Künstler wurden durch Strukturen maschineller Produktion ersetzt, die sich durch Arbeitsteilung auszeichnen. Das ist sicherlich effizienter, aber die Comics verlieren so allmählich ihre Seele und werden langweilig. Natürlich nimmt dieses Phänomen auch in China immer mehr zu. In meinen Augen ist jeder Künstler ein eigenständiges Individuum. Daher lassen sich Comics meiner Meinung nach nicht anhand von Kategorien wie der Nationalität unterteilen. Es gibt für mich nur zwei gültige Kategorien: Comics, die mir gefallen, und solche, die mir nicht gefallen. Mir gefallen Werke von Autoren, die ihr Leben bewusst geführt haben, ihre Lebensabschnitte haben ihnen Schmerz und Glück beschert, und sie verarbeiten diese Emotionen in ihren Geschichten.
Ageng:
Chinesische und japanische Comics haben sich immer gegenseitig beeinflusst, und es ist schwierig, eine absolute Unterscheidung zu treffen. Der japanische Altmeister des Manga Osamu Tezuka (1928-1989) war von den Erzählmethoden in den Animationsfilmen der chinesischen Wan Brothers (1900-1997; 1900-1995) fasziniert und recherchierte viel darüber, bevor er den erzählerischen japanischen Comic schuf. Die gegenwärtigen chinesischen Comics haben große Fortschritte erzielt und sind sehr innovativ geworden, weil chinesische Comic-Künstler in den 1990er Jahren in großem Ausmaß japanische Comics analysiert haben und von ihnen lernen konnten. Hierin liegen Bedeutung und Freude kulturellen Austauschs. Gegenwärtig existieren meines Erachtens nach keine Unterschiede in den Erzähltechniken zwischen dem japanischen Manga, dem chinesischen Manhua oder selbst Comic-Traditionen in anderen asiatischen Teilregionen. In anderen Worten, China, Japan, Südkorea und andere asiatische Länder haben unter den einigenden Merkmalen einheitlicher formaler Erzähltechniken und einer gemeinsamen Bildsprache unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen gebildet. Es gibt in China auch immer mehr Comic-Künstler im Independent-Bereich, die interessante individuelle Stile entwickelt haben. In ihrer Konzeptionalität und Individualität ähneln sie europäischen Graphic Novels.
Comic-Couch:
Liebe Jidi, liebe Ageng… ich bedanke mich herzlich für das Interview. Es war mir eine Freude und ich hoffe, dass viele westliche Leser auf den Manhua-Geschmack kommen. Weiterhin viel Erfolg und alles Gute.
Jidi:
Danke an Comic-Couch für das Interview.
Das Interview führte Marcel Scharrenbroich im September 2020.
Foto "Jidi": © Jidi
Foto "Ageng": © weibo.com/doveland
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