Interview:
Antonia Kühn
04.2018 Antonia Kühns umfangreiches Comic-Debüt „Lichtung“ erschien im März 2018 im Reprodukt Verlag und wir freuen uns sehr, der Künstlerin zu ihrem eindrucksvollen Erstling gratulieren und ihr gleichzeitig auch ein paar Fragen stellen zu dürfen.
Ein besonderer Reiz besteht für mich darin auch im Comic eine starke Atmosphäre zu transportieren
Comic-Couch:
Hallo Antonia. „Lichtung“ ist eine sehr bewegende Graphic Novel über Verlust, Trauer und verblasste Erinnerungen. Wenn man sich so lange mit einem solch emotionalen Projekt befasst, liegt dann nur leichte, humorvolle Lektüre auf dem privaten Lesestapel?
Antonia Kühn:
Ich mag beide Stimmungen sehr gern, man muss es nur ausbalancieren; wobei ich die Kombination von leicht und humorvoll nicht unbedingt bevorzuge. Am schönsten finde ich es, wenn Geschichten gleichzeitig Tiefgang haben und dennoch humorvoll sind.
Comic-Couch:
Neben der geerdeten Grundgeschichte des Buches arbeitest Du viel mit Bildmetaphern und Symbolik. Waren alle surrealen Sequenzen von Anfang an fest eingeplant, oder gab es auch spontane Einfälle, die erst nach dem eigentlichen Schreiben, während des zeichnerischen Prozesses, integriert wurden?
Antonia Kühn:
Am Anfang hatte ich eine recht üppige schriftliche Sammlung an surrealen Sequenzen. Das Buch ist ja innerhalb eines langen Zeitraums von knapp vier Jahren entstanden und während dieser Zeit habe ich alle Möglichkeiten in einem Büchlein gesammelt. Da kommt auch oft was spontan. Man lebt ja mit dieser Geschichte. Später, bei der Umsetzung habe ich aber auch etliche Ideen wieder verworfen, weil sie grafisch unergiebig waren oder in der Zeichnung einfach nicht funktioniert haben.
Das Schiebepuzzle zum Beispiel passte perfekt zu Pauls verzweifeltem „Rekonstruieren“ des Gesichts seiner Mutter. Mir hat es grafisch sofort gefallen mit diesem Raster zu experimentieren.
Comic-Couch:
Du gehst sehr liebevoll mit Deinen Charakteren um, was besonders im Fall des kleinen Paul sofort den Beschützerinstinkt des Lesers weckt (zumindest ging es mir so). Wie wichtig ist Dir eine Bindung zwischen Leser und Hauptfigur? Hilft diese Bindung, um tiefer in die Geschichte eintauchen zu können?
Antonia Kühn:
Eine gute Bindung zwischen Leser und Hauptfigur ist sicher immer hilfreich, um den Leser für die Geschichte zu begeistern. Das wäre jetzt eine interessante Frage, ob es mir mit dem Mädchen oder dem Vater ebenso hätte gelingen können.
Für mich war von Anfang an klar, aus wessen Sicht ich die Geschichte erzählen möchte. Paul war quasi prädestiniert.
Er ist das jüngste Familienmitglied und fordert seinen Anspruch auf ein Verstehen der familiären Zusammenhänge sehr unvoreingenommen für sich ein. Dabei bleibt er dennoch behutsam, entwickelt aber eine Dringlichkeit, die im Laufe der Geschichte alle aufweicht. Ohne sich darüber bewusst zu sein, führt er die Familie sukzessive wieder zusammen. In kleinen, leisen aber sicheren Schritten. Dabei geht es ihm auch nicht hauptsächlich um ein detektivisches Aufdecken einer konkreten Wahrheit. Er erkennt aber intuitiv die Notwendigkeit als Familie wieder aufeinander zugehen zu müssen. Und das tut sie dann ja auch; wirklich physisch und jenseits irgendwelcher klärenden Gespräche, durchleben die Geschwister gemeinsam eine Erfahrung, die ihnen zu mehr Verständnis ihrer Situation verhilft.
Comic-Couch:
Ich persönlich bin ein großer Freund von rätselhaften, surrealen Geschichten, die Freiraum für Interpretationen lassen und beim Lesen dachte ich mir „Wow, wenn David Lynch mal ein Familien-Drama verfilmen möchte, sollte er mal „Lichtung“ unter die Lupe nehmen“. Gibt es Künstler, die Dich mit ihrer Art des Geschichtenerzählens beeinflusst oder geprägt haben?
Antonia Kühn:
David Lynch ist fantastisch, wobei Film und Comic ja schon sehr unterschiedlich funktionieren. Ein besonderer Reiz besteht für mich darin auch im Comic eine starke Atmosphäre zu transportieren; ganz ohne Effekte wie Bewegung und stimmungsvolle Filmmusik.
In meiner Geschichte spielen oft kleine Momente, Alltagssituationen einen große Rolle. Ein Stück Kalter Hund schiebt sich zwischen zwei Panels, auf denen Hochhäuser und Fensterreihen zu sehen sind. Solche Verknüpfungen gefallen mir sehr. Sowas funktioniert auch wirklich nur im Comic.
Comic-Couch:
Der Verzicht auf Farbe begeisterte mich bereits bei Jeff Lemires „Der Unterwasser-Schweißer“, welcher durch den Einsatz von Graustufen zwischen verschiedenen Erzähl-Ebenen pendelte. Auch bei „Lichtung“ empfand ich so und denke, dass eine Kolorierung hier eher vom fließenden Übergang in surreale Sequenzen abgelenkt hätte. Wo siehst Du die Vorteile bei schwarz-weiß-grauen Illustrationen?
Antonia Kühn:
Die Technik des Bleistift hat alles zu bieten. Man kann klare grafische Linien und dann wieder ganz weiche malerische Flächen erzeugen. Die zahlreichen Graustufen entwickeln dann eine ganz eigene Farbigkeit.
Comic-Couch:
Hast Du nach der Arbeit an „Lichtung“ schon Ideen für neue Projekte, bzw. dürfen wir uns auf weitere Beiträge im Comic-Genre freuen?
Antonia Kühn:
Meine Faszination für Comics ist ungebrochen und ich würde gern weiter damit experimentieren.
Comic-Couch:
Ich bedanke mich ganz herzlich bei Dir für das Interview und wünsche Dir weiterhin viel Erfolg für Deine lesenswerte Graphic Novel „Lichtung“.
Das Interview führte Marcel Scharrenbroich im April 2018.
Fotos © Carsten Dammann
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