Film:
X-Men: Dark Phoenix
von Marcel Scharrenbroich (11.2019) / Titelbild: © 2019 Twentieth Century Fox
„Alle, die in Schönheit gehn, werden in Schönheit auferstehn.“ - Rainer Maria Rilke (Lyriker; 1875 – 1926)
Eine gegen alle - Alle für eine!
Selbst für Comic-Laien, die nicht mit MARVELs „X-Men“-Geschichten aufgewachsen sind und demzufolge auch die wegweisenden Storys The Phoenix Saga (US-Hefte: „Uncanny X-Men“ #101 – 108) und The Dark Phoenix Saga („Uncanny X-Men“ #129 – 138) nicht kennen, die allesamt zwischen 1976 und 1980 erstmals veröffentlicht wurden (und seitdem immer wieder gesammelt als Paperback erscheinen, zuletzt für deutsche Leser im September 2018 durch den Panini Verlag), sollte nach der Eröffnungssequenz des Filmes klar sein, dass der Fokus in dieser Geschichte gänzlich auf dem Charakter Jean Grey liegt.
Jean Grey beherrscht als Klasse 5-Mutantin die volle Fähigkeits-Palette. Von Telepathie bis Telekinese, was sie zu einer der Mächtigsten ihrer Art macht. Jedoch lernte sie erst im Laufe der Zeit mit diesen Kräften umzugehen. Die achtjährige Jean (Summer Fontana) ist noch weit davon entfernt auch nur ansatzweise zu verstehen, wozu sie in der Lage ist. Deshalb überlebt sie auch als einzige Insassin einen Autounfall, der ihre Eltern das Leben kostet… unabsichtlich verursacht von der jungen Mutantin. Allein und traumatisiert, nimmt sich Professor Charles Xavier (James McAvoy) dem Mädchen an und bietet ihr ein Zuhause. Xaviers Institut für begabte Jugendliche… wo sie lernen soll, mit ihren Kräften umzugehen und unter Gleichgesinnten aufwachsen kann.
1992: Als festes Team der X-Men, werden Jean (Sophie Turner) und ihre Kollegen Cyclops (Tye Sheridan), Storm (Alexandra Shipp), Beast (Nicholas Hoult), Quicksilver (Evan Peters) und Nightcrawler (Kodi Smit-McPhee) zu einem Einsatz im All berufen… vom Präsidenten höchstpersönlich. Vor Ort sollen sie die Bodenkontrolle der NASA unterstützen, die händeringend versucht, ihre Leute lebend zur Erde zurück zu bringen. Das Space Shuttle Endeavour wurde durch eine Sonneneruption stark beschädigt. Nightcrawler materialisiert sich an Bord der Endeavour und mit Quicksilvers Hilfe wird die Crew schnell in Sicherheit gebracht. Doch ein Besatzungsmitglied fehlt… und die Zeit rennt davon. Die gewaltige Eruption nähert sich und droht sowohl die Endeavour, als auch das Schiff der X-Men zu zerstören. Trotz Mystiques (Jennifer Lawrence) Einspruch, wird an der Maxime von Professor Xavier – dass niemand zurückgelassen wird – festgehalten. Hier muss Jean ran. Sie versucht an Bord des Shuttles die näherkommende Energiequelle aufzuhalten, schafft es nach der Rettung des letzten Crew-Mitglieds aber nicht mehr zurück. Sie kollidiert mit der vermeintlichen Sonneneruption, die sie wie ein gigantischer Feuerball trifft. Die Energie durchströmt sie und sie scheint die grellen Lichter förmlich aufzusaugen. Wie durch ein Wunder überlebt sie den Zwischenfall im Weltall.
Ohne Verluste kehren die X-Men zurück zur Erde, gefeiert von der wartenden Menge. Da dieser Einsatz aber folgenschwer hätte enden können, sorgt Xaviers Beharren auf Beendigung des Einsatzes für Konflikte innerhalb der Gruppe. Dass er die Leben von Fremden vor dem Wohlergehen seiner „Familie“ stellt, stößt nicht bei allen Mutanten auf Gegenliebe. Zu sehr sei Xavier auf den Schein in der Öffentlichkeit fixiert. Währenddessen wird Jean von Hank McCoy, alias Beast, gründlich untersucht. Bis auf die Tatsache, dass sie durch das Zusammentreffen mit der kosmischen Macht noch mächtiger… viel mächtiger geworden zu sein scheint, sind keine körperlichen Schäden festzustellen. Dies ändert sich aber bald, als die junge Mutantin bei einer abendlichen Feier im angrenzenden Wald zusammenbricht…
Völlig überwältigt von ihrer neuen Kraft, die sie selber kaum kontrollieren kann, übersteigt Jeans Macht sogar die des Professors. Dieser schafft es auch nicht mehr, den Unfall aus ihrer Kindheit vor ihr zu verschleiern, weshalb Jean eine erschütternde Wahrheit offenbart wird. Hals über Kopf verlässt sie die X-Men, um sich dieser Wahrheit zu stellen.
Währenddessen treibt sich eine außerirdische Spezies auf der Erde rum: die D’Bari. Die Heimat der Gestaltwandler wurde durch die kosmische Energie, die von Jean Grey absorbiert wurde, zerstört und ihre Anführerin Vuk (Jessica Chastain) ist neugierig auf das Wesen, das dieser zerstörerischen Macht trotzen konnte.
Die X-Men bleiben ihren Prinzipien treu und versuchen ihre Gefährtin zur Heimkehr zu bewegen. Dabei kommt es zu einem tragischen Zwischenfall, der Jean den Rückzug antreten lässt. Sie flüchtet sich zur Insel Genosha, die den Mutanten als Rückzugsort überlassen wurde. Hier herrscht Erik Lehnsherr, auch bekannt als Magneto (Michael Fassbender). Als dieser erfährt, was Jean getan hat, sinnt er auf Rache. Fest entschlossen die Mutantin zu töten, entbrennt bald ein wilder Kampf mitten in der Stadt. Hier treffen alle Parteien aufeinander: die X-Men, Magneto und seine Mutanten, die D’Bari… und eine völlig außer Kontrolle geratene Jean Grey.
KEIN Vergleich
Sooo… das war er also, der letzte Einsatz der uns bekannten X-Men unter dem 20th Century Fox-Banner. Und was jetzt folgt, widerspricht dem allgemeinen Tenor zum Film, der von vielen Fans ja bereits VOR Kinostart kräftig durch die braune Soße gezogen wurde, denn… mir hat „Dark Phoenix“ verdammt gut gefallen. Momentchen, lasst die Fackeln noch aus und stellt die Mistgabeln noch mal kurz zur Seite. Gleich wird es nämlich noch besser… und ich möchte nicht durchs Dorf getrieben werden, bevor ich meine Begeisterung erklärt habe und kurz auf ein anderes Superhelden-Team eingegangen bin.
Erst einmal zu „Dark Phoenix“: Ja, das Thema um Jean Greys Phoenix-Phase hatten wir schonmal. In „X2“ (2003) und „X-Men: Der letzte Widerstand“ (2006). Ich möchte jetzt auch gar nicht erst versuchen, die Zusammenhänge der ersten Trilogie mit dem verjüngten Neustart, der mit „X-Men: Erste Entscheidung“ (2011) eingeleitet wurde, aufzudröseln, da mir (und Euch) bestimmt der Kopf rauchen würde, wenn wir auch noch Wolverines Solo-Ausflüge „Origins“ (2009), „Weg des Krieges“ (2013) und den grandiosen „Logan“ (2017) reinquetschen würden. Dann müssten wir auch noch Wade Wilson als vierte Wand durchbrechenden Deadpool mit reinkloppen, was uns schon auf 12(!) Filme bringen würde, deren komplizierte Timeline durch das Highlight im X-Men-Film-Kosmos „Zukunft ist Vergangenheit“ (2014) zusätzlich gehörig durcheinandergewirbelt wurde. Auch die beiden TV-Serien „Legion“ und „The Gifted“ spielen im gleichen Universum und sind damit irgendwie Teil des Ganzen, wobei aber nur die Erstgenannte wirklich empfehlenswert ist und nach drei Staffeln kürzlich erfolgreich beendet wurde… während „The Gifted“ mit der Veröffentlichung von Season 2 gecancelt wurde. Kein großer Verlust.
Schaut man sich „Dark Phoenix“ jetzt einmal losgelöst von seinen Vorgängern an, bekommt man den wohl persönlichsten Film der „X-Men“-Hauptreihe zu sehen. Die Handlung konzentriert sich komplett auf Jean Grey, ihre Beziehung zu Scott Summers, ihre Vergangenheit und die unfassbare neue Kraft, die die eh schon übermächtige Mutantin mehr und mehr übermannt. Im Grunde ist es ein Familien-Drama, da auch Charles Xaviers Lebenswerk - ein sicheres Heim für seine „Kinder“ zu schaffen – einzustürzen droht. Die X-Men werden nicht mehr ausschließlich als Bedrohung für die Öffentlichkeit wahrgenommen. Sie haben sich und ihre Absichten bewiesen, stehen parat, wenn es brennt. Sie agieren im Auftrag des Präsidenten, haben Fans, sind zu Idolen einer ganzen Generation geworden. Ein Erfolg, der Xavier zu Kopf zu steigen droht. Er stellt das Wohl der Öffentlichkeit über das Wohl seiner Familie, um den Ruhm, den ihre heldenhaften Taten einbringen, genüsslich auszukosten. Sich darin zu sonnen… in der Sicherheit seines Instituts, während sein Team im Außeneinsatz Kopf und Kragen riskiert. Dies sorgt innerhalb der X-Men für Reibungspunkte, an denen die eingeschworene Gruppe zu zerbrechen droht. Und dies wird in meinen Augen hervorragend thematisiert.
Im Making-of der Blu-ray wird es ziemlich gut auf den Punkt gebracht: Jeder der „X-Men“-Filme (nach der ersten Trilogie) hatte einen anderen Ton, ein anderes Thema. So glich „Erste Entscheidung“ einem Polit-Thriller, „Zukunft ist Vergangenheit“ war ein rasanter Zeitreise-Film und „Apocalypse“ (im wahrsten Sinne) ein Katastrophen-Film. Und nun, liegt mit „Dark Phoenix“ ein Familien-Drama vor. Passt doch… versprüht in jedem Fall Abwechslung und die (obligatorische) Action kommt auch nicht zu kurz. Gestaltet sich die erste Hälfte noch ziemlich ruhig und storylastig, rappelt es im weiteren Verlauf mächtig im Karton. Gleich drei Showdowns folgen Schlag auf Schlag und unsere Helden wechseln dabei rasant und explosiv die Örtlichkeiten. Dabei wird aus allen Rohren gefeuert, jeder Charakter bekommt seine eigenen fünf Minuten und eine durchaus kreative Zerstörungsorgie beginnt, bei der man sich zuerst untereinander bekämpft und dann Hand in Hand dem gemeinsamen Feind gegenübertritt. Diese außerirdische Spezies, die irgendwie deplatziert in der Story wirkt und wie schnell aus dem Ärmel geschüttelt anmutet, war wohl Mittel zum Zweck, da die Action sonst nur halb so bombastisch ausgefallen wäre. Konnte ich persönlich verschmerzen, da der Unterhaltungswert dadurch enorm hoch war.
Kommen wir nun zum Teil, wo Ihr die Fackeln so langsam anzünden könnt. Jetzt bringe ich nämlich die Avengers ins Spiel. Ich werde allerdings NICHT den Fehler machen und „Endgame“ mit „Dark Phoenix“ vergleichen, wie es zweifelsohne viele Zuschauer getan haben. In „Avengers: Endgame“ rettet der halbe MARVEL-Bestand den Planeten… ach was, das ganze Universum! Damit KANN und WILL „X-Men: Dark Phoenix“ nicht mithalten. Dass „Dark Phoenix“ nur knapp sechs Wochen nach den MARVEL-All-Stars im Kino aufschlug und deshalb zwangsläufig mit diesen verglichen wurde, sollte den Mutanten nicht zum Verhängnis werden. Eine epische Materialschlacht wie den Kampf gegen Thanos, die halb Hollywood auf den Plan ruft und im großen Finale noch emotional auf die Tränendrüse drückt, lässt sich nicht mit einer verhältnismäßig „kleinen“ und sehr intimen Story auf eine Stufe stellen. Die X-Men regeln ihre Dinge innerhalb der Gruppe, was es zu einem privaten Krieg werden lässt. Gut, die außerirdische Rasse der D’Bari strebt auch das Ende der Menschheit an, aber der Drops ist schnell gelutscht, beziehungsweise wird nicht weiter vertieft, da es bis zu diesem Punkt noch ein langer Weg wäre und (noch) keine unmittelbare Gefahr für unseren Planeten besteht. Dazu ist Jean Grey der Schlüssel, was wiederum zeigt, dass die ganze Story sich um ihren Charakter dreht und die Konsequenzen, die aus ihrer neuerlangten Kraft entstehen. Wie bereits gesagt, ein Familien-Drama… mit Mutanten… und Action… und ohne Avengers.
Der letzte Vorhang fällt
Leider kommt das große Finale auch für mich nicht ohne Schwächen aus. Diese liegen zum einen bei der Figur Jean Grey und ihrer Entwicklung, die ich mir drastischer gewünscht hätte. Der dunklen Macht, die sie immer mehr einnimmt, hätte mehr Zeit eingeräumt werden müssen. Düsterer, böser und bedrohlicher hätte es ausfallen dürfen. Der zweite Schwachpunkt liegt ebenfalls bei Jean Grey… und zu meinem Bedauern bei ihrer Darstellerin. Ausgerechnet die überaus attraktive Sophie Turner scheint in ihrer ersten „großen“ Hauptrolle heillos überfordert. Die „Game of Thrones“-Darstellerin spielte bereits eine Hauptrolle in dem sehr zu empfehlenden Mystery-Thriller „Another Me“, wo sie auch voll ablieferte, hier jedoch verblasst ihre Darstellung und sie steht weit im Schatten von James McAvoy und Michael Fassbender. Diese reißen mit ihrer unglaublichen Präsenz jede Szene an sich und schaffen es alleine durch gekonntes Minenspiel, ihre Charaktere zu definieren. Sehr schade, dass Miss Turner dagegen auf Sparflamme zu laufen scheint und es nicht schafft, die gewünschte Tiefe ihrer Figur zu erzielen.
Jennifer Lawrence bleibt als Raven/Mystique ebenfalls blass(blau), hatte aber eh keinen Bock mehr auf ihre Rolle, wie zuvor bereits verlautbart wurde. Aber Vertrag ist nun mal Vertrag… und sie wollte ihren Fans ja noch einen würdigen Abschied liefern. Ja… genau. Und das hatte auch nicht damit zu tun, dass ihr Marktwert seit dem Oscar-Gewinn 2013 für „Silver Linings“ enorm gestiegen ist und sie zuvor den „X-Men“-Vertrag über gleich mehrere Filme unterschrieben hat. Hollywood-typisch hört es sich nun mal besser an, wenn man etwas für die Fans macht, anstatt fürs Bankkonto. Dieses schleimige Geschwafel zieht sich auch durch das komplette Making-of, in dem jeder jeden lobt und für den besten seines Faches hält… selbst wenn jemand zum ersten Mal vor der Kamera stand oder Regie geführt hat. Quasi ein überlanges Werbe-Filmchen für ein Produkt, für das man längst die Kohle auf den Tisch gelegt hat. Trotzdem gibt es auch interessante Einblicke in den Dreh, die man sich durch die Lobhudelei nicht vermiesen lassen sollte. Generell gibt es an der Blu-ray-Umsetzung nichts zu meckern. Das Bild ist knackscharf und auch die Effekte können sich mit ihren leuchtenden Farb-Explosionen wirklich sehenlassen. Absolut ebenbürtig mit vergleichbaren Produktionen… und eine ganze Ecke eindrucksvoller als noch in „X-Men: Apocalypse“… und „Black Panther“.
Wie es nun mit den X-Men nach ihrem Umzug zu Disney weitergeht, steht in den Sternen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Mutanten über kurz oder lang im Marvel Cinematic Universe (MCU) aufprallen werden, wo es im nächsten Jahr ja mit einer ordentlichen Neuausrichtung in Phase 4 weitergeht. Es wäre der Truppe um Charles Xavier zu wünschen, denn sie haben im Comic-Bereich einen hohen Stellenwert und erfinden sich dort auch immer wieder neu… warum dann nicht auch auf der Leinwand?
Fazit:
Dass „Dark Phoenix“ an den Kinokassen baden ging, ist eindeutig selbstverschuldet. Wie kann man nur sechs Wochen nach „Avengers: Endgame“ eine ähnliche Comic-Verfilmung ins Rennen schicken, die dem Rächer-Bombast in Sachen epischer Schlacht nicht das Wasser reichen kann? Das lässt das „X-Men“-Finale in einem Licht stehen, in das es nicht hingehört! Die Verschiebungen des Kinostarts sorgten im Vorfeld zusätzlich für schlechte PR, denn es ist allgemein bekannt, dass Studios ihre Filme verschieben und lange vor der Presse zurückhalten, wenn sie selber nicht vom Endergebnis überzeugt sind… siehe „New Mutants“, der wahrscheinlich nie ein Kino von innen sehen wird und irgendwann klammheimlich bei einem Streamingdienst verramscht wird.
Inhaltlich quasi das genaue Gegenteil der Blockbuster-Avengers und mehr im Kleinen gedacht, bietet „Dark Phoenix“ viele persönliche und auch bewegende Momente. Hinzu kommen noch satte Action, bei der es gut zur Sache geht, größtenteils gute bis sehr gute Darsteller und ein angemessener Score von Hans Zimmer… der schon x-mal gesagt hatte, dass er keine Musik mehr für Superhelden-Filme komponieren wolle. Hat ja gut geklappt. Zusammen mit „Zukunft ist Vergangenheit“ der beste Beitrag zur „X-Men“-Hauptreihe und ein würdiges Finale, welches man auch ohne Vorkenntnisse der anderen Teile genießen kann. So… und jetzt treibt den Schmierfinken durch die Dörfer.
Wertung: 8 (Film: 8 / Blu-Ray: 8)
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