Film:
Wenn der Wind weht

von Marcel Scharrenbroich (10.2019) / Titelbild: © Turbine Medien

“Im Frühling wird’s wieder schön…”

Enola Gay…

…you should have stayed at home yesterday. So lautet die erste Zeile des Songtextes von „Orchestral Manoeuvres in the Dark“, kurz „OMD“, die 1980 mit ihrem Antikriegslied den Atombombenabwurf auf Hiroshima besangen. Am 6. August 1945 startete der B-29 Bomber „Enola Gay“ - benannt nach der Mutter des Piloten Paul W. Tibbets, jr. – mit einer zwölfköpfigen Besatzung und zwei weiteren B-29-Maschinen im Schlepptau von Tinian, einer der drei großen Inseln des Commonwealth der Nördlichen Marianen, in Richtung der Stadt auf der japanischen Insel Honshū. Aus Sicherheitsgründen wurde die Bombe „Little Boy“ erst während des Fluges scharfgemacht. Zu groß war die Gefahr, dass das Monstrum schon vorher detonieren könnte. Um 08:15 Uhr Ortszeit wurde „Little Boy“ abgeworfen. Nach weniger als einer Minute erfolgte die gigantische Explosion, deren Atompilz sich 13 Kilometer in den Himmel bohrte. Die unvorstellbare Opferzahl betrug 70.000 bis 80.000… und das nur unmittelbar nach der Detonation. Inklusive der Tode durch die Spätfolgen, wird Zahl derer, die ihr Leben lassen mussten, zwischen 90.000 und mehr als 200.000 geschätzt. Nur drei Tage später erfolgte ein ähnlicher Angriff, mit einem ähnlich verheerenden Ergebnis, auf die japanische Stadt Nagasaki. Ja, „Enola Gay“… wärst Du nur zuhause geblieben…

When The Wind Blows…

…säuselt es bewegend und eindringlich aus dem Mund von David Bowie, während reale Archiv-Aufnahmen auf den Ost-West-Konflikt verweisen, bevor wir Jim kennenlernen. Jim ist bereits im Ruhestand und macht sich gerade nach einem Bibliotheks-Besuch auf den Heimweg, zu seiner liebenden Frau Hilda. Die beiden leben in einem kleinen, urigen Häuschen, abseits des großen Trubels der englischen Hauptstadt. Idyllisch und abgeschieden, ja, beinahe unberührt ist hier die Natur. Strahlend blauer Himmel in Kontrast zum frischen, knallgrünen Gras. Sympathisch lässt uns das Ehepaar an seinen Schrullen teilhaben. Sofort fühlen wir uns in ihrem gemütlichen Heim willkommen und schwelgen mit ihnen in Erinnerungen. Die heimelige Abgeschiedenheit erscheint wie aus der Zeit gefallen, doch der Fortschritt holt uns und Jim wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Die Nachrichten im Radio verraten, dass die Weltlage mehr als angespannt ist. Der Kalte Krieg ist in vollem Gange und Jim fällt es noch immer schwer, die Russen als Feindbild zu sehen. Bringt er diese doch immer wieder mit den Deutschen durcheinander, obwohl der Zweite Weltkrieg schon mehr als 40 Jahre zurückliegt.

Sich völlig im Klaren, dass das Unvorstellbare kurz bevorsteht, dessen Ausmaße aber nicht mal annähernd erahnend, befolgt Jim akribisch die von der Regierung herausgegebene „Protect and Survive“-Broschüre. Diese real existierenden Zivilschutzinformationen wurden Anfang der 80er-Jahre von der britischen Regierung publiziert, um die Bevölkerung auf einen möglichen nuklearen Angriff vorzubereiten. Während Hilda sich robust gibt und anmerkt, dass wenn sie den damaligen Krieg heil überstanden haben, dieser sie auch nicht kleinkriegen wird und sich mehr darum sorgt, dass das kleine Häuschen samt Mobiliar und Geschirr intakt bleibt, nimmt Jim die Warnungen ernster. Er beginnt, die Fenster mit weißer Farbe zu streichen, damit die mögliche Strahlung abgehalten werden kann. Zudem montiert er mehrere Zimmertüren ab und lehnt diese schräg an die Wand. Die sich dahinter befindende Nische soll ihm und Hilda Schutz bieten, so lange die kontaminierte Luft eine Gefahr darstellt… oder so lange, wie es das allwissende „Protect and Survive“-Handbuch vorschreibt.

Das Radioprogramm wird jäh unterbrochen und tatsächlich steht der Ernstfall bevor. Hilda ist noch darauf bedacht, die Wäsche im Garten von der Leine zu nehmen, kann jedoch von Jim überzeugt werden, mit ihm in den notdürftig gebauten Schutzraum zu kriechen. Dann erfolgt der Einschlag… der die letzten Tage im Leben von Hilda und Jim Bloggs einläutet…

Forever Young…

…fühlte ich mich, als die ersten Bilder über den Flachbildschirm flimmerten… welcher mich in diesem Moment als einziges daran erinnerte, dass ich nicht mehr 8, sondern mittlerweile 40 Jahre auf der Uhr habe. 8 Jahre… so alt müsste ich ungefähr gewesen sein, als ich „Wenn der Wind weht“ zum ersten Mal sah. Ließ das alte Motiv der VHS-Kassette erst auf den zweiten Blick vermuten, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Zeichentrickfilm handeln würde, griffen unwissende Eltern schnell mal daneben, wenn sie ihre Kinder den Film alleine schauen ließen. Ein sympathisch-kauziges Pärchen, eine Altersfreigabe ab 6 Jahren… was soll da schon schiefgehen? Tja, rund 80 Minuten später wussten die erstaunten Eltern es. „Wenn der Wind weht“ entpuppte sich nämlich als tieftrauriges, verstörendes Drama, welches die Folgen eines atomaren Angriffs ungeschönt an einem netten Rentnerpaar verdeutlichte. Und zwar in allen erdenklichen Formen, bis zum unausweichlichen Ende.

Ich selber sah den Film kurz nach seinem Erscheinen, hatte aber das Glück, ihn mit meinem Vater zu sehen, der mich behutsam (aber ebenfalls etwas geschockt) über das aufklärte, was ich da mit Tränen in den Augen sah. Mehr als 30 Jahre ist diese Erfahrung nun her und das erneute Schauen von „Wenn der Wind weht“ hat so manche Erinnerung geweckt… sodass ich den Abspann aus verschiedenen Gründen wieder mit glasigen Augen vorbeiziehen ließ.

I’m So Excited…

… dass „Wenn der Wind weht“ nun endlich in einer würdigen Veröffentlichung vorliegt und bereit ist, von einer neuen Generation entdeckt zu werden. Immer noch mit einer Freigabe ab 6 Jahren, verdeutlicht das Cover des TURBINE-Mediabooks nun schon mehr, was den Zuschauer erwartet. Der gewaltige Atompilz, der bedrohlich über den Köpfen des ahnungslosen Paares emporsteigt und den Titelschriftzug trägt, deutet an, dass es sich nicht um einen Kinderfilm handelt. Es sei an dieser Stelle unbedingt empfohlen, den jüngeren Zuschauern nur in Anwesenheit eines Elternteils dieses tricktechnische Meisterwerk zu zeigen.

Basierend auf dem Comic-Buch „Strahlende Zeiten“ des britischen Autors und Illustrators Raymond Briggs, der zuvor schon mit den illustrierten Kinderbüchern „O je, du fröhliche“ und „Der Schneemann“ internationale Erfolge feiern konnte, wurde der amerikanische Regisseur mit japanischen Wurzeln Jimmy T. Murakami (1933 – 2014) mit der Umsetzung des Stoffes betraut. 1980 drehte Murakami bereits den Sci-Fi-Streifen „Sador – Herrscher im Weltraum“ aus der Schmiede von B-Movie-Produzent Roger Corman und nur ein Jahr später sammelte er Animations-Erfahrung mit dem Trickfilm „Heavy Metal“, basierend auf dem gleichnamigen Comic-Magazin.

Für „Wenn der Wind weht“ setzte man gleich mehrere unterschiedliche Verfahren ein. Ist das Rentnerpaar noch liebevoll per Hand gezeichnet, wird ihre Umgebung im Stop-Motion-Verfahren dargestellt. Auch reale Aufnahmen sind an einigen Stellen eingestreut worden. Dieser Mix funktioniert außerordentlich gut, wie es zuvor bereits einige Hybride aus den Disney Studios vorgemacht hatten.

Another Brick In The Wall…

…könnte man sagen, denn dank des auf 2.000 Exemplare limitierten Mediabooks von TURBINE kann man sich eine weitere Perle der Filmkunst ins heimische Regal stellen. Passend ist die Überschrift für diesen Absatz auch, da Roger Waters - seines Zeichens Sänger, Bassist und Mitbegründer der Rock-Band „Pink Floyd“ – als Komponist für die Filmmusik zuständig war. Der Titelsong wurde währenddessen von David Bowie beigesteuert.

Während im englischen Originalton die preisgekrönten und geadelten britischen Schauspieler Sir John Mills (1908 – 2005) und Dame Peggy Ashcroft (1907 – 1991) Jim und Hilda ihre Stimmen leihen, hört man in der fabelhaften deutschen Synchronisation die vertrauten Stimmen von Peter Schiff (1923 – 2014), den man aus vielen TV-Serien, der „Tatort“-Reihe, Kino-Erfolgen wie „Didi und die Rache der Enterbten“ und „Otto – Der Liebesfilm“, sowie als Synchronsprecher von Louis de Funès kennt, und der unvergesslichen Brigitte Mira (1910 – 2005), die jahrelang eine der „Drei Damen vom Grill“ war und mit ihrer unvergleichlichen Art jede der zahlreichen Produktionen, in denen die Berliner Volksschauspielerin während ihrer jahrzehntelangen Karriere mitwirkte, bereicherte.

Der Film selbst ist sowohl auf Blu-ray als auch auf DVD enthalten und befindet sich auf beiden Datenträgern im Original-Format 4:3. Hinzu kommen 123 Minuten an Bonusmaterial (117 Minuten bei der DVD). Darunter eine sehenswerte und fast spielfilmlange Dokumentation über den Regisseur, namens „Jimmy Murakami: Non-Alien“. Ebenfalls ist ein Making-of, sowie ein Interview mit Raymond Briggs, dem Schöpfer der literarischen Vorlage, enthalten. Im Audiokommentar kommen der First Assistant Editor Joe Fordham und Filmhistoriker Nick Redman zu Wort. Im Buchteil von Tobias Hohmann finden sich neben interessanten Fakten über die Produktion, deren Macher und die Vorlage auch Bilder vom Dreh, Abbildungen des Comics, sowie Abbildungen der weltweit unterschiedlich gestalteten Filmplakate.

Fazit:

Ein liebevoll animierter, erschreckender und tieftrauriger Film, der absolut nichts von seiner Faszination verloren hat und in der heutigen Zeit, 33 Jahre nach seiner Entstehung, aktueller denn je erscheint. Es ist und bleibt herzzerreißend, wie naiv und blauäugig das arme Pärchen agiert, Pläne für die Zukunft schmiedet, die Situation selbst mit schwindenden Kräften und in erschütternd ausgemergelten Zustand unterschätzt und verharmlost… nicht wissend, dass ihre letzte Stunde bereits vor Tagen mit einem gigantischen Knall geschlagen hat.

Wertung: 9  (Film: 9  |  Blu-ray: 8)


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Bilder & Cover: © Turbine Medien

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