Doctor Strange in the Multiverse of Madness
von Marcel Scharrenbroich (05.2022) / Titelbild: © Disney
Horror-Papst mit Keuschheitsgürtel
Leitfaden erwünscht
Wie viele MARVEL-Filme gibt es mittlerweile? Hat jemand mitgezählt? Es sind 294. Gut… eigentlich sind es 28, aber es fühlt sich deutlich nach mehr an. Gefühlt vergeht kaum ein Monat, in dem DISNEY und MARVEL uns nicht neuen Output um die Ohren schleudern. Die Streaming-Plattform DISNEY+ hat dazu ordentlich beigetragen, werden dort doch neue Serien im Akkord rausgefeuert. Und seitdem SONY mit seinem SSU (Sony’s Spider-Man Universe) auch noch mitmischt, ist der Overkill an Comic-Verfilmungen in greifbarer Nähe.
Kurz zur Erklärung: Die Rechte an der Figur Spider-Man liegen bei SONY PICTURES, Ein Deal zwischen SONY und MARVEL sorgt seit 2015 dafür, dass Spider-Man in Filmen aus dem MCU (Marvel Cinematic Universe) auftreten darf. Während Spidey seitdem also mit den Avengers & Co. auf Du und Du ist, darf SONY lediglich Figuren aus dem Umfeld des Wandkrabblers verwenden… was uns filmischen Kernschrott wie „Venom“, dessen noch unerträglichere Fortsetzung und letztendlich den blutleeren „Morbius“ bescherte.
Diese drei kläglichen Versuche, Superhelden-Filme ohne einen zugkräftigen Superhelden auf die Beine zu stellen, kann man getrost ignorieren. Bis jetzt sind die Verbindungen zum MCU marginal. Anders sieht es allerdings beim MCU selbst aus. Für Neueinsteiger wird es immer schwieriger, dem gesamten Konstrukt zu folgen. Wer bislang noch keinen Kontakt zu den MARVEL-Filmen hatte, wird bei „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ komplett im Dunkeln stehen. Welche Eckpfeiler sind also unabdingbar, um der Story folgen zu können?
Als Erstes sollte da natürlich das „Doctor Strange“-Debüt aus dem Jahr 2016 genannt werden. Allein um den Charakter und die in dessen Umfeld auftretenden Figuren zu verstehen. Das „Avengers“-Double-Feature „Infinity War“ und „Endgame“ markierte dann nicht nur den bisherigen Höhepunkt des MCU, sondern stellte auch die Weichen für die Zukunft. Unmittelbar davor könnte man noch den dritten Captain America- Solo-Film „The First Avenger: Civil War“ einschieben, der sich aber eher nach einem Avengers 2.5 anfühlt. Jetzt wird es etwas tricky, aber um möglichst vollen Durchblick zu haben, sollte man wenigstens den letzten Spidey-Film „Spider-Man: No Way Home“ gesehen haben. Da dessen Filme ebenfalls aufeinander aufbauen, könnte man die Trilogie mit den vorangegangenen „Homecoming“ und „Far From Home“ komplettieren. Da die Filme sehr viel Spaß machen, ist der zeitliche Aufwand durchaus gerechtfertigt. „No Way Home“ öffnet zudem die Pforten zum Multiversum, was in der zuvor erschienenen DISNEY+-Serie „Loki“ bereits thematisiert wurde. Nicht der wichtigste Baustein im Kasten, dafür recht kurzweilig. Unabdingbar ist die Serie „WandaVision“, da die Story von „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ sehr stark auf deren Geschehnisse aufbaut. Und zwar sehr, sehr stark.
Das klingt vielleicht kompliziert und viel, sorgt aber für den optimalen Durchblick. Ob MARVEL und DISNEY sich mit diesem ineinander verschachtelten Aufbau nicht irgendwann mal selber die Kniescheiben aus der Verankerung schießen, darf stark in den Bereich des Möglichen rücken. Neue Zuschauer mag man dank des komplexen Wirrwarrs kaum noch hinzugewinnen können. Dass mittlerweile sogar ein DISNEY+-Abo notwendig ist, um die ins MCU integrierten Serien zu schauen und somit den Anschluss beim nächsten Kinofilm nicht zu verpassen, halte ich schon fast für dreist. Das wurde anfänglich mal anders kommuniziert. Für Sammler/Sammlerinnen zudem noch ein Tritt vor den Sack/die Säckin, da Heimkino-Veröffentlichungen der Streaming-Serien wohl ein Wunschtraum bleiben werden. Die komplette Timeline wird man also nie im heimischen Regal stehen haben. Erzielte man im Herbst 2021 mit der Gurke „Eternals“ den ersten waschechten Flop im MCU, sollte dies eventuell ein Warnschuss für die Kreativen um Kevin Feige, dem Präsidenten der MARVEL STUDIOS, sein. Vielleicht wären klarere Strukturierungen im geschaffenen Universum eine sicherere Bank, anstatt immer weiter zu expandieren und möglichst viele neue Charaktere hervorzuzaubern. Großartige Storys für bereits etablierte Figuren gäbe es zuhauf… schaut nur in die MARVEL-Comics der letzten Jahrzehnte.
Chaos aus parallelen Welten
Was für ein Albtraum! Schweißgebadet reißt es Stephen Strange (Benedict Cumberbatch) aus dem Schlaf, sah er doch eben eine andere Version seiner selbst an der Seite eines unbekannten Mädchens gegen ein gigantisches Monstrum kämpfen… und dabei sterben. Quicklebendig, jedoch noch ordentlich durchgeschüttelt, geht es am Tag darauf dann zur Hochzeit. Allerdings nicht die von Stephen, denn der ist weiterhin „glücklicher“ Single. Seine Ex Christine Palmer (Rachel McAdams) tritt vor den Traualtar. Der schönste Tag im Leben ist nur von kurzer Dauer, denn auf den Straßen New Yorks wird es plötzlich laut und hektisch. Autos fliegen durch die Luft und eine unsichtbare Bedrohung bahnt sich ihren Weg. Scheinbar voll und ganz auf ein Ziel fokussiert. Strange enttarnt die Gefahr per Magie und erblickt das glupschäugige Monster aus seinem Traum… wie es Jagd auf das Mädchen macht, welches ihm ebenfalls aus seinem nächtlichen Trip bekannt ist.
Es stellt sich heraus, dass das Mädchen auf den Namen America Chavez (Xochitl Gomez) hört und über die Fähigkeit verfügt, durch das Multiversum zu reisen. Wie sie das anstellt, ist ihr selbst ein Rätsel. Strange und Wong (Benedict Wong), aktuell als ranghöchster Sorcerer Supreme im Einsatz, sind überfragt… aber da gibt es jemanden, der mit der von den beiden Magiern verspürten Hexerei deutlich mehr Erfahrung hat: Wanda Maximoff.
Wanda (Elizabethh Olsen) lebt seit schweren Verlusten in der Vergangenheit eher zurückgezogen… so macht es zumindest den Anschein. In Wahrheit hat sie das sagenumwobene Darkhold - ein Zauberbuch, geschaffen aus dunkler Materie - studiert, um ihre Kräfte als Scarlet Witch ins Unermessliche zu katapultieren. Sie ist es, die Jagd auf America Chavez macht. Sie erhofft sich durch Americas Fähigkeiten durch das Multiversum zu springen, wieder zu ihren vermeintlichen Kindern Billy (Julian Hilliard) und Tommy (Jett Klyne) zu finden. Dass America keine Ahnung hat, wie sie gezielt Portale in andere Parallelwelten öffnen kann, hindert die Scarlet Witch aber nicht, ihren gnadenlosen Feldzug zu starten… denn für ihre Kinder geht sie über Leichen. Viele Leichen.
An die Leine genommen
Während eines Interviews auf der Weltpremiere von „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ mit Regisseur Sam Raimi und Co-Producer Mitch Bell wurde erwähnt, dass man dem Horror-Visionär freie Hand gelassen hätte. Nun, da konnte sich selbst Raimi ein Grinsen nicht verkneifen, denn was einst als erster Horrorfilm im MCU angekündigt wurde, verläuft doch in weiten Teilen nach der üblichen MARVEL-Formel. Man merkt, dass der „Tanz der Teufel“-Schöpfer mit angezogener Handbremse durchs Multiversum tuckert. Im letzten Drittel nimmt das Ganze dann aber ordentlich an Fahrt auf… sofern die FSK12/PG13-Höchstgeschwindigkeit einen Bleifuß halt zulässt. Hätte Raimi WIRKLICH nach Belieben auf die Tube drücken können, wäre dieser Film wohl DER Wegweiser in ein erwachseneres MCU geworden, was sich Fans in Voraussicht auf die kommenden Projekte „Blade“ und einer noch unbetitelten Deadpool-Fortsetzung sehnlichst wünschen. Zum jetzigen Zeitpunkt ist „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ zwar der düsterste MARVEL-Ableger, aber einen wegweisenden Regisseur wir Sam Raimi („Darkman“, „Drag Me to Hell“) nicht von der Kette zu lassen, ist fast schon verschenktes Potential.
Diese kleine Kritik aber nur am Rande, denn die Bilder des Films sind großartig! Selbst die ruhigen Momente, in denen die Story vorangetrieben wird, sind hervorragend in Szene gesetzt. Das ist vor allem dem Darsteller-Ensemble zu verdanken. Ganz vorne natürlich Benedict Cumberbatch, der dem Magier Stephen Strange charismatisch und mit trockenem Witz perfektes Leben einhaucht. Richtig umgehauen hat mich Elizabeth Olsen. Als Scarlet Witch Wanda Maximoff spielt sie zwischen herzzerreißend und diabolisch. Zwischen Fürsorge und unbändiger Wut. Ein beeindruckender Spagat zwischen sämtlichen Gefühlslagen. Gestik und Mimik sind in jeder Szene auf den Punkt, was für sehr intensive Szenen sorgt. Neugierig war ich auf den MCU-Neuzugang America Chavez, gespielt von der Newcomerin Xochitl Gomez. Das Young Avengers-Mitglied ist noch verhältnismäßig frisch im Comic-Business und erhielt seine erste Solo-Serie erst im Jahr 2017. Die spätere Miss America dient der Story als Motor, um die Ereignisse überhaupt in Gang zu bringen, bleibt aber sonst eher in der zweiten Reihe, bis ihre Fähigkeiten wieder von Nöten sind, um die gewünschte Richtung einzuschlagen. Solide, mehr aber nicht. Bleibt abzuwarten, inwieweit sie in weitere Filme involviert wird und sich vielleicht noch entwickelt.
Spannend ist es natürlich zu erfahren, welche Easter Eggs und Cameo-Auftritte sich die Macher diesmal wieder haben einfallen lassen. Von beidem gibt es reichlich und im Vorfeld wurde schon viel spekuliert, welcher MARVEL-Charakter im neusten Ableger aus dem Schatten tritt. In den unergründlichen Weiten des Netzes wurde nicht nur ein erster MCU-Auftritt von Deadpool hoch gehandelt, man vermutete sogar eine Rückkehr von Hugh Jackman als Wolverine.
Nach überraschenden Gast-Auftritten in „Spider-Man: No Way Home“ scheint fast nichts mehr unmöglich und so streute sich das hartnäckige Gerücht, dass man Tony Starks Alternativ-Version Superior Iron Man in Form von Tom Cruise zu Gesicht bekommen könnte. Nicht im Bereich des Unmöglichen, denn der Hollywood-Star war vor Robert Downey Jr. im Gespräch für die Rolle des Eisernen. Durch diverse Trailer, die selbstverständlich von findigen Schnüfflern mit Lupe wieder Frame für Frame nach Details abgesucht wurden, war schon bekannt, dass die Illuminati sich erstmals die Ehre geben werden. Comic-Kenner hatten bei einigen Mitgliedern bereits den richtigen Riecher. Deren Oberhaupt wurde nach einem Trailer bereits anhand seines kahlen Hinterkopfs, einem gelben Rollstuhl (bekannt aus der „X-Men“-Zeichentrickserie aus den 90ern!) und seiner markanten Stimme enttarnt. Für die restlichen Illuminati reichten Spekulationen, um deren erste Comic-Auftritte für Sammler über Nacht zu begehrten Sammlerobjekten zu machen. Tja, da soll noch mal einer sagen, das Kino hätte keine Macht mehr…
Fazit
Nicht einsteigerfreundlich, für MARVEL-Cracks jedoch ein wilder Ritt mit vielen visuellen Highlights. „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ ist unterm Strich ein waschechter MARVEL-Film. Allerdings einer mit düsterer Note. Die Handschrift von Sam Raimi scheint immer mal durch, doch kann er nur im rasanten Finale wirklich auf die Kacke hauen. Dank der beeindruckenden Special Effects, den toll gefilmten Bilderfluten und der charismatischen Hauptdarsteller ist der 28. MCU-Beitrag schnell, abwechslungsreich, kurzweilig und ein weiterer Schritt in ein noch größeres Universum… Verzeihung, MULTIVERSUM. Ach ja, Sitzenbleiben während des Abspanns ist wieder mal Pflicht!
Wertung: 8
Fotos: © Disney Studios
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