Black Widow
von Marcel Scharrenbroich (07.2020) / Titelbild: © Marvel Studios
Familiensache
Wo, wie und wann?
Wäre man Comic-Verfilmungen gegenüber generell nicht wohlgesinnt, könnte man „Black Widow“ als Füllmaterial ansehen. Das Marvel Cinematic Universe (MCU) wird mit diesem Film nämlich keinen Meter vorangetrieben. Wer konstant am Ball geblieben ist - und davon gehen wir jetzt mal aus -, wird bemerkt haben, dass Natasha Romanoff sich in „Avengers: Endgame“ zum Wohle der Menschheit opferte. Und da dieser Film bereits 2019 wie eine Lawine durch die Kinokassen rollte, ist ein Solo-Film doch reichlich spät dran… oder? Vielleicht sogar überflüssig, da ihr Schicksal ja bereits besiegelt ist?
Zur ersten Frage: Ja, spät dran ist „Black Widow“ tatsächlich, sollte er doch bereits Ende April 2020 anlaufen. Da sieht man mal, dass selbst ein Avenger bei Covid-Beschränkungen machtlos ist. Inhaltlich ist es jedoch keineswegs zu spät, denn „Black Widow“ ist keine klassische Origin-Story, die schnell noch nachgeschoben wird, sondern viel mehr Bindeglied zwischen dem dritten Captain America-Abenteuer „The First Avenger: Civil War“ von 2016 (welcher streng genommen eher ein „Avengers 2.5“ war als ein weiterer Cap-Solo-Film) und dem ersten Teil der Thanos-Konfrontation „Avengers: Infinity War“ (2018), dem insgesamt dritten Team-Film im MCU. Und überflüssig erscheint „Black Widow“ ebenfalls nicht. Zum einen, da Scarlett Johansson mit diesem Leinwand-Abenteuer ein (größtenteils) würdiger Abschied nach jahrelangem Dasein in der zweiten Reihe bereitet wird. Zum anderen, weil die Geschichte ihres Charakters beleuchtet wird, ohne zu sehr ins Detail zu gehen, was die Figur an sich betrifft. Um ihre unmenschliche Ausbildung nachzuvollziehen, brauchen wir keine Nacherzählung in allen Einzelheiten. Diese ist zwar weiterhin Thema, rückt jedoch eher durch die Einführung von Natashas Schein-Schwester Yelena in den Vordergrund. Diese ist dann auch der Größte Pluspunkt, den „Black Widow“ hervorbringt.
Aus der Grauzone in den „Roten Raum“
Natasha Romanoff (Scarlett Johansson) wurde zur perfekten Tötungsmaschine ausgebildet, bekam aber den Dreh und wurde als Teil der Avengers zur gefeierten Heldin. Doch vor dem Kampf für das Gute, stand eine Kindheit, um die sie niemand beneiden wird.
Ohio, 1995: Die junge Natasha (Ever Anderson, Tochter der Schauspielerin Milla Jovovich und des Regisseurs Paul W. S. Anderson) lebt mit ihrer „Familie“ in einem gemütlichen Vorort. Eines Abends ist es mit dem scheinbar unbedarften Leben jedoch vorbei. Alexei (David Harbour) platzt ins Abendessen und teilt Melina (Rachel Weisz) mit, dass sie unverzüglich aufbrechen müssen. Es dauert nicht lange, bis sich S.H.I.E.L.D.-Agenten an ihre Fersen heften. Nur mit knapper Not können die Verfolger abgehängt werden, indem Alexei, Melina und die Kinder in einem Propellerflugzeug fliehen. Es geht nach Kuba, wo die verletzte Melina erstversorgt wird. Kein Familien-Happy End, denn die russischen Spione befanden sich in einem dreijährigen Undercover-Einsatz für General Dreykov (Ray Winstone). Alexei, der seinen roten Superhelden-Dress für diese Zeit an den Nagel hängen musste, übergibt dem Auftraggeber eine Diskette mit brisanten Daten. Einsatz abgeschlossen. Für Natasha soll es wieder in den „Roten Raum“ gehen. Eine Einrichtung, in der Mädchen zu Widows, willenlosen und gleichsam effektiven Killerinnen, herangezüchtet werden. Ebenso soll es ihrer jüngeren „Schwester“ Yelena (Violet McGraw) ergehen. Mit Waffengewalt versucht die dreizehnjährige Natasha Dreykov davon abzubringen… vergeblich.
2016: Natasha Romanoff befindet sich auf der Flucht. Nachdem sie sich auf die Seite Captain Americas schlug - der gegen das Sokovia-Abkommen* war und damit Teil eines internen Kriegs wurde, der das Superhelden-Team zersprengte - wurden dessen Weggefährten durch Außenminister Ross (William Hurt) zur Fahndung ausgeschrieben. Clint „Hawkeye“ Barton, Sam „Falcon“ Wilson und Scott „Ant-Man“ Lang wurden durch die Behörden bereits festgesetzt, doch Natasha ist ihren Verfolgern immer einen Schritt voraus.
Zur gleichen Zeit befindet sich Yelena Belova (Florence Pugh) zusammen mit Killerinnen des „Roten Raums“ auf einer Mission in Marokko. Die Widows sollen ein Paket sicherstellen, fliegen jedoch auf. Yelena nimmt die Verfolgung auf und kann eine der abtrünnigen Verräterinnen stellen. Sie überwältigt die Flüchtige und tötet sie. Das ist ihr Job. Kurz vor ihrem Tod, zündet die Sterbende eine Kapsel mit rotem Inhalt vor Yelenas Gesicht. Das Gas einmal eingeatmet, wird die Widow von ihren geistigen Fesseln befreit. Die Gedankenkontrolle des „Roten Raums“ hat ihre Wirkung verloren. Schnell nimmt Yelena die weiteren Dosen des Gases, die in dem zu beschaffenden Paket waren, an sich. Nun ist sie selbst eine Flüchtige und wird von ihren ehemaligen Schwestern gejagt.
In Norwegen hat Rick Mason (O-T Fagbenle), ein ehemaliger S.H.I.E.L.D.-Agent und organisatorisches Genie, Natasha einen vorübergehenden Unterschlupf in der Natur besorgt. Dort erreicht sie dann auch die Post, die ins Safehouse in Budapest geschickt wurde… darunter ein Päckchen von Yelena. Schnell merkt Natasha, dass sie da ganz brisanten Inhalt vor sich hat, denn ein maskierter Killer hat ihr Fährte aufgenommen: der Taskmaster. So langsam dämmert der Black Widow, dass der Attentäter, der jeden Kampfstil sofort imitieren kann, im Auftrag von Dreykov agiert und der Inhalt des Päckchens das eigentliche Ziel der Suche ist. Nachdem sie sich den Taskmaster kurzzeitig vom Leib schaffen konnte, bricht Natasha Richtung Budapest auf, um Yelena aufzusuchen. Nicht direkt ein herzliches Wiedersehen…
Jedoch müssen die entzweiten „Schwestern“ an einem Strang ziehen, um dem „Roten Raum“ und General Dreykov ein für alle Mal den Stecker zu ziehen und ihre kontrollierten Leidensgenossinnen aus der Gedanken-Sklaverei zu befreien. Dazu braucht es allerdings noch Verstärkung. Zuerst soll Alexei Shostakov rekrutiert werden, der als Red Guardian immerhin das russische Pendant zu Supersoldat Captain America ist… war… Tja, diese Zeiten liegen schon etwas länger zurück und der Ex-Held fristet sein Dasein in einem bestens bewachten Gefangenenlager. Natasha und Yelena wagen es und versuchen ihr Bestes, um die „Familie“ wieder zusammenzuführen…
Kämpfen mit der Familie
Das vierköpfige Familien-Gespann ist dann auch das Herzstück des Films. Damit deren gemeinsame Momente richtig funktionieren, ist es voll und ganz der erfahrenen Star-Power zu verdanken, die die australische Regisseurin Cate Shortland („Somersault“, „Lore“, „Berlin Syndrome“) um sich schart. Nun sollte man meinen, dass Scarlett Johansson das alleinige Aushängeschild ist, immerhin trägt der Film ihren Rollennamen. Heimlicher Star des Films ist aber ganz klar Florence Pugh. Die 1996 geborene Britin startet momentan voll durch und schafft es mit Charme und Witz, die Sympathien der Zuschauer auf sich zu ziehen. Mit perfektem Gespür für Timing, sitzt bei ihr jede Mimik und jede Geste. Nach dem mehrfach ausgezeichneten Kostümfilm „Lady Macbeth“ (2016) ging es für Florence Pugh steil nach oben. Mit dem Biopic „Fighting with My Family“ (2019), basierend auf der Karriere der WWE-Profi-Wrestlerin Saraya-Jade Bevis (alias Paige), spielte sie sich in zahlreiche Herzen und entwickelte sich nach einigen Historien-Stoffen weiter. So zog es Pugh ebenfalls 2019 nach Schweden… in einen Urlaub der besonderen Art. In Ari Asters „Midsommar“ ließ der „Hereditary“-Regisseur sie und ihre Co-Stars durch die Hölle gehen. Sehr sehenswert und erfrischend anders. Im Pugh-Jahr 2019 war sie dann noch in der sechsfach Oscar-nominierten Roman-Adaption „Little Women“ an der Seite von Saoirse Ronan, Emma Watson, Meryl Streep, Laura Dern und dem kommenden „Dune“-Star Timothée Chalamet zu sehen.
Der beliebte „Stranger Things“-Sheriff und durch „Suicide Squad“ (2016) und „Hellboy - Call of Darkness“ (2019) bereits Comic-erfahrene David Harbour bleibt hingegen leider weit hinter seinen Möglichkeiten. Zwar große Töne spuckend, läuft sein Red Guardian auf Sparflamme und bekommt meist den Arsch vollgehauen, wenn er nicht gerade Mithäftlingen die Knochen beim Armdrücken bricht. Die große Action bleibt allein Johansson und Pugh vorbehalten. Damit ist die immer noch bezaubernde Rachel Weisz („Außer Kontrolle“, „Die Mumie“, „Das Urteil“), die man in den letzten Jahren viel zu wenig in großen Rollen sah, auch nur in den ruhigen Momenten des Films stark. 2005 schnupperte Weisz ebenfalls schon Comic-Luft und spielte zusammen mit Keanu Reeves im unterschätzten „Constantine“. Die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt jedenfalls und so manch gelungene Dialog-Szene, sei es am Familientisch oder vor der Tanke, hätte man sich gern länger gewünscht. Aber einen wichtigen Darsteller hätte ich fast vergessen: Es gibt ein Schweinchen, das eigenständig Türen öffnet UND (nicht ganz so eigenständig) die Luft anhalten kann! WIE DROLLIG IST DAS DENN???
Moment… kennen wir das nicht?
Der größte Knackpunkt an „Black Widow“ ist, dass MARVEL es einfach nicht lassen kann, die generische MARVEL-Formel anzuwenden und sich bei den Kinofilmen nicht traut, neue Wege zu gehen. Die DISNEY+-Serie „WandaVision“ war da mutiger. Fragte man sich während der ersten Folgen noch, wo die Reise hingehen mag, lichtete sich nur langsam der Schleier und offenbarte… die typische MARVEL-Formel. Sorry, mein Fehler. Risikofreudig ist das Team um MCU-Runner Kevin Feige also nicht, was sich dann leider wieder in Natasha Romanoffs Solo-Abenteuer zeigt, welches, wenn man es genauer nimmt, eigentlich ein Team-Film und zugleich Brückenbauer für die Zukunft ist. Dabei hat der Film durchaus seine starken und sogar emotionalen Momente. Sobald sich aber so etwas wie Gefühl für mehr als zwei Minuten einschleicht, scheint im Hintergrund jemand „ACTION!“ gebrüllt zu haben, denn Knall auf Fall wird die Stimmung zugunsten schnell geschnittener Effekt-Keilereien gekillt. Das ist schade, denn gerade in den ruhigen Momenten, wird „Black Widow“ interessant. Selbst die Thriller-Elemente, die nicht zuletzt an Spionage-Streifen wie „Die Bourne Identität“ erinnern, passen sehr gut zum Charakter und dem Ton, in dem der Film angelegt ist. Die Opening-Sequenz verspricht da leider etwas zu viel und im Endeffekt steuern wir wieder auf ein überladenes Effekt-Finale zu, das nur selten weiß, wann es genug ist.
In einer Szene schaut sich Natasha den Bond-Film „Moonraker“ aus dem Jahr 1979 an und man merkt, dass sie diesen auswendig kennt. Und so scheut sich „Black Widow“ auch nicht, recht offensichtlich bei diesem abzukupfern. Sei es bei der unkonventionellen Kommandozentrale der Gegenspieler, Luft-Akrobatik der übertriebenen Art oder dem Oberschurken an sich. General Dreykov erinnert nämlich nicht von ungefähr an einen größenwahnsinnigen Verwandten von Ernst Stavro Blofeld, Le Chiffre, Francisco Scaramanga oder Dr. No. Ebenfalls ist die Spionage-Prämisse nicht neu, mit der der Film beginnt. Diese gab es schon 2013 in der FX-Serie „The Americans“, während die durchchoreographierten Kämpfe auf engstem Raum an die „Bourne“-Filme oder die Comic-Adaption „Atomic Blonde“ erinnern. Ebenso wenig darf eine Motorrad-Verfolgungsjagd à la „Der Morgen stirbt nie“ oder „Knight and Day“ fehlen. Ein feines Potpourri, garniert mit obligatorischen MARVEL-Zutaten, krachenden Effekten und Referenzen ans MCU. Für einen launigen Kino-Abend mag das reichen. Um aus der Masse an Comic-Verfilmungen herauszustechen aber nicht.
Fazit:
Im Kern dreht sich „Black Widow“ um Vergeben und Nicht-Vergessen. Leider ist es die größte Stärke von MARVEL, möglichst spektakuläre Action zu inszenieren… das theatralische zu Grabe tragen eines Tony Stark mal außer Acht gelassen. So bleibt nicht viel Raum für Neues. Es ist vor allem den Darstellern zu verdanken, dass der Film nicht durch zusammengekittete Action-Sequenzen in generische Einzelteile zerbricht. Ein Action-Fest ohne Risiken und nach altbewährter Erfolgsformel, die uns auch immer wieder daran erinnert, was wir bereits im MCU gesehen haben. Sei’s drum… Scarlett Johansson hat endlich ihren wohlverdienten Solo-Streifen, verbeugt sich noch einmal und bereitet die Bühne für Florence Pugh. Und MARVEL und Kevin Feige müssten mit Thors Hammer gekämmt sein, wenn sie Pugh nicht stärker in weitere Projekte einbinden.
* Das Sokovia-Abkommen trat in Kraft, nachdem ein Avengers-Einsatz unschuldige Menschenleben kostete und das Superhelden-Team nach öffentlichen Protesten den Vereinten Nationen unterstellt werden sollte. Verantwortlich dafür war der Außenminister Thaddeus „Thunderbolt“ Ross. Tony „Iron Man“ Stark befürwortete die Entscheidung, während Steve „Captain America“ Rogers die Konvention zur Registrierung und Überwachung der Superhelden ablehnte. Dies spaltete die Avengers in zwei Lager, woraufhin ein heftiger Kampf entbrannte. Der „Civil War“.
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