The Sandman

von Marcel Scharrenbroich (09.2022) / Titelbild: © Netflix

Traumhaft / Einzelhaft

Rückkehr des Ewigen

1916 führt der britische Aristokrat und Okkultist Roderick Burgess (Charles Dance) ein Ritual durch, um den Tod gefangen zu nehmen. Death ist eine der Ewigen, bestehend aus sieben Geschwistern, die anders als Götter keine gläubige Anhängerschaft benötigen, um zu existieren. Neben Death halten Desire (Verlangen), Despair (Verzweiflung), Destiny (Schicksal), Destruction (Zerstörung), Delirium (Fieberwahn) und Dream (Traum) unsere Welt im Gleichgewicht. Älter als die Zeit und mächtiger als Gottheiten.

Burgess‘ Ritual geht schief und an Stelle von Death befindet sich plötzlich Dream (Tom Sturridge) in einem irdischen Gefängnis. Um seinen Willen durchzusetzen, versucht Burgess Dream zu brechen und bemächtigt sich seiner mächtigen Insignien: seinem Helm, einem Rubin und Dreams Beutel mit Traumsand. Ohne diese ist Lord Morpheus regelrecht machtlos, weigert sich jedoch stoisch, dem Fanatiker seinen Wunsch zu gewähren. So gibt er sich wortlos seinem Schicksal hin und bleibt für mehr als ein Jahrhundert ein Gefangener. Doch ohne Kontrolle über die Träume und Albträume der Menschen stürzt die Welt ins Chaos. Unzählige leiden entweder unter andauernder Schlaflosigkeit, oder fallen in einen tiefen Schlaf, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Erst in unserer Gegenwart gelingt Dream die Flucht… doch seine Insignien, mit denen sich Burgess‘ Geliebte Ethel Cripps (Niamh Walsh) aus dem Staub machte, sind mittlerweile weitläufig verstreut. So kehrt Dream geschwächt in sein Traumreich zurück. Treu bewacht von Lucienne (Vivienne Acheampong), sind von einem einst imposanten Palast nur noch Ruinen übrig. Träume und Albträume haben sich abgewendet. Um sein Reich wiederaufzubauen, muss Dream sich auf die Suche nach seinen Insignien begeben. Dazu ruft er die Schicksalsgöttinnen (Nina Wadia, Souad Faress, Dinita Gohil), welche ihm nach einer Gegenleistung erste Anhaltspunkte liefern. Lord Morpheus begibt sich wieder unter die Menschen, wo ihn sein erster Stopp zur erfahrenen Exorzistin Johanna Constantine (Jenna Coleman) führt… doch das ist nur der Anfang seines beschwerlichen und gleichermaßen erhellenden Weges.

Meister der Traumwelten

Über mehrere Jahrzehnte galt „The Sandman“ als unverfilmbar. Ähnliches sagte man zuvor über Tolkiens „Der Herr der Ringe“, was - wie wir seit Peter Jacksons Trilogie wissen - dank moderner Technik plötzlich möglich war. Ganze Welten wurden künstlich aus dem Nichts erschaffen, Massenszenen am Rechner verhundertfacht und eh schon imposante Naturaufnahmen konnten mit kosmetischen Extras in nie dagewesene Landschaften verwandelt werden. Zwingend notwendig, um „The Sandman“ zum Leben zu erwecken. Dazu muss man wissen, dass der Stoff auf der gleichnamigen Comic-Serie beruht, welche ziemlich genau vorgibt, in welch phantastischen Sphären man sich zu bewegen hat. Ohne den heutigen Effekt-Standard undenkbar und wohl auf altmodische Weise - durch aufwändige Kulissen, Matte Paintings etc. - nur halbwegs bis gar nicht glaubwürdig zu realisieren. Neil Gaiman, der Schöpfer des „Sandman“-Universums und Autor weiterer zahlreicher Bestseller, hatte da schon ganz genaue Vorstellungen. Er bekam bereits Anfang der 90er-Jahre mitgeteilt, das WARNER BROS. Interesse an einer Verfilmung hegt. Zu einem Zeitpunkt, wo der Comic noch in einer recht jungen Phase war, denn die im DC-Verlag erschienene Serie lief in 75 Ausgaben (mit Heft #47 wechselte man ins VERTIGO-Imprint, wo erwachsenere Stoffe abseits der Superhelden unterkamen) von 1989 bis 1996. Es wurden verschiedene Drehbücher angefertigt, die jedoch entweder durch kreative Differenzen oder zu eigenwilligen Neuinterpretationen in den hauseigenen Giftschrank wanderten. Nach Jacksons Erfolg mit der „Der Herr der Ringe“-Trilogie (2001 - 2003) bekam ausschweifende Fantasy plötzlich wieder Leben eingehaucht. Das bekam auch Gaiman mit, der sich ein ähnliches Mastermind für sein Werk wünschte. Dabei hatte er besonders den Ex-Monty Python Terry Gilliam im Auge, dessen Filme „Time Bandits“ (1981) „Brazil“ (1985) und „12 Monkeys“ (1995) ihre ganz eigene, unverwechselbare Bildsprache haben. Dazu sollte es aber nie kommen.

Es war David S. Goyer, Regisseur, Produzent und erfolgreicher Drehbuchautor der „Blade“-Filme (1998 – 2004), Christopher Nolans „Dark Knight“-Trilogie (2005 – 2012), der Sci-Fi-Perle „Dark City“ (1998) sowie „Man of Steel“ (2013) und „Batman v Superman: Dawn of Justice“ (2016), der das Projekt wieder auf den Tisch holte. 2013 war noch immer eine Film-Adaption angedacht, während bereits seit 2010 offen darüber diskutiert wurde, ob der Stoff nicht besser als TV-Serie umgesetzt werden könnte. Goyer blieb am Ball und holte den Drehbuch- und Comic-Autoren Allan Heinberg ins Boot. Nachdem man 2019 den lukrativen Deal mit NETFLIX eintüten konnte, wurde Heinberg zum Showrunner ernannt, während er gemeinsam mit Gaiman und Goyer das Konzept für die erste Staffel entwickelte und die Serie produziert.

Losgelöst und doch zusammen

Um solch ein episches Mammutwerk, welches nicht nur mit unzähligen Preisen überhäuft wurde, sondern auch als das anspruchsvollste und vielleicht erwachsenste Stück Comic-Geschichte überhaupt gesehen werden darf, möglichst werkgetreu umzusetzen, ist es natürlich wichtig, den Fokus richtig zu setzen. Da „The Sandman“ nicht nur aus einer fortlaufenden Handlung besteht, sondern sich aus vielen Puzzlestücken zusammensetzt, braucht es schon Fingerspitzengefühl, um den richtigen Ton bzw. das richtige Tempo der Vorlage zu treffen.

Für die erste Staffel, bestehend aus zehn regulären Folgen, nahm man die Story-Arcs „Präludien & Notturni“ (orig. „Master of Dreams“) und „Das Puppenhaus“ (orig. „The Doll’s House“) ins Visier. Diese laufen recht nahtlos ineinander, denn „The Sandman“ schafft einen fast unmöglichen Spagat. So haben wir zwar eine große Haupthandlung, die vordergründig der Wiedererrichtung des Traumreichs gilt, im Ganzen gesehen aber noch so viel mehr zu bieten hat. So gibt es Intrigen und Konflikte zwischen den Ewigen, Abstecher in andere Epochen, philosophische Gespräche oder kammerspielartige Elemente, wie sie die fünfte Episode zu bieten hat. „24 Stunden“ spielt fast ausschließlich in einem Diner, wo John Dee (David Thewlis) die Macht von Dreams Rubin nutzt, um alle Anwesenden zu manipulieren. Im Kleinen wird anschaulich gezeigt, was wäre, wenn die Menschheit nicht mehr lügen würde. Eine beklemmende Atmosphäre und ein schon fast losgelöstes, in sich stimmiges Kapitel, welches die Vielseitigkeit der Serie hervorstellt. Eine weitere Highlight-Folge ist Episode 6, „Das Rauschen ihrer Flügel“, in der wir Death bei ihrer Arbeit und Dream beim Knüpfen einer Freundschaft über gleich mehrere Jahrhunderte begleiten, bevor wir in den zweiten Story-Arc übergehen. Das ist großartiges Storytelling.

Überraschend hat NETFLIX seit dem 19. August noch eine Bonus-Episode zur Verfügung gestellt. Diese besteht aus zwei Teilen: „Der Traum der tausend Katzen“ (im Original in US-Heft #18 „Dream Country: A Dream of a Thousand Cats“) ist eine animierte Kurz-Episode, in der eine siamesische Katze ihren Artgenossen ihre traurige Lebensgeschichte erzählt. In „Kalliope“ (im Original in US-Heft #17 „Dream Country: Calliope“) treffen wir dann die gleichnamige Muse, die ein ähnliches Schicksal wie Dream ereilt. Gegen ihren Willen wird sie gefangen gehalten und soll einem Schriftsteller mit Schreibblockade wieder auf Erfolgskurs verhelfen. Außerdem erfahren wir mehr über die Vergangenheit des Herrschers des Traumreichs. Auch die elfte Folge fügt sich hervorragend in die sogerzeugende Welt von „The Sandman“ ein und ist eine Bereicherung für die Staffel.

Die beiden Bonus-Geschichten sind auch Teil des zweiten deutschen Comic-Sammelbandes „Das Puppenhaus“. Die komplette „Sandman“-Saga ist in neun üppigen Deluxe-Hardcover-Bänden bei PANINI erschienen. Ein Rundum-sorglos-Paket, welches in jeder Comic-Sammlung einen Ehrenplatz einnehmen sollte. Wegweisend, bahnbrechend und seiner Zeit weit voraus.

Kino im TV

Der Look von „The Sandman“ ist schlichtweg bombastisch. Man sieht der Serie an, dass ihr ein hohes Budget zur Verfügung gestellt wurde. Wer die Comics kennt, wird sofort erahnen, dass es unmöglich ist, eine solch ausschweifende Fantasy-Story ohne den Einsatz von CGI-Effekten zum Leben zu erwecken. Herausgekommen sind rahmensprengende Bilder, die eigentlich auf eine große Leinwand gehören. Wenn Dream vor den Pforten seines Reiches steht, fühlt man sich unweigerlich an „Der Herr der Ringe“ erinnert, denn die Größe und Tiefe der künstlichen Bauwerke und Welten erzielen schon eine erschlagende Wirkung. So manch stilisierte Szene wirkt gar direkt der Vorlage entnommen. Dennoch wurde dort, wo es möglich war, auf reale Sets und Kostüme gesetzt. Eine hoch anzurechnende Entscheidung, denn fast jede Episode hat einen anderen Ton. Effekte wurden nicht platziert, um eine Bombast-Orgie zu zelebrieren, sondern richtig dosiert eingesetzt. Äußerst passend, denn wir haben mit „The Sandman“ keine action-orientierte Serie, dafür mehr bild- und wortlastige Episoden mit reichlich Mythologie und philosophischen Gesprächen. Dennoch springen wir durch die Jahrhunderte, irren durch Traum- und Albtraumwelten, befinden uns an Örtlichkeiten wie dem Diner, welches handlungsbedingt fast ein eigener Charakter ist, und streifen durch die Unterwelt. Dort gibt es Massenszenen mit zahlreichen Komparsen in handgemachten Kostümen. Das Gasthaus in Episode 6 wurde an jedes Jahrhundert angepasst, was auch für dessen Gäste gilt. Da kann man auch mal großzügig über Dreams schlechtsitzende Perücke im 14. Jahrhundert hinwegsehen.

Rabe Matthew, Dreams Begleiter bei Abstechern in die Welt der Menschen, wurde am Set durch einen echten Flattermann verkörpert, dem das Sprechen später digital am Rechner beigebracht wurde. So wurde auch  Mervyn Pumpkinhead - ein äußerst beliebter Comic-Charakter, der im Jahr 2000 mit „Merv Pumpkinhead: Agent of D.R.E.A.M.“ sein eigenes Comic-Special bekam - vor Ort von einem richtigen Schauspieler im Kostüm gespielt, bevor die an Jack Kürbisköpfchen - aus dem düsteren Disney-Streifen „Oz - Eine fantastische Welt“ (orig. „Return to Oz“; 1985) - erinnernde Figur mit effektreicher Mimik versehen wurde. Wer Filme und Serien lieber im Original schaut, darf sich auf hochkarätige Sprecher freuen. Der aus „King of Queens“ bekannte Patton Oswalt spricht Matthew, während niemand Geringeres als Mark Hamill - der ewige Luke Skywalker und Synchronstimme des Jokers („Batman: The Animated Series“) und 2019 auch die der Killerpuppe Chucky („Child’s Play“) im eigenständigen Remake ohne Film- und Serien-Bezug - Mervyn seine markante Stimme leiht. In der Bonus-Episode kommen dann noch David Tennant („Doctor Who“) samt Gattin Georgia („In the Dark“), Michael Sheen („Good Omens“), James McAvoy („X-Men“; 2011 – 2019), Sandra Oh („Grey’s Anatomy“) und Neil Gaiman höchstselbst zum Zug.

Die Zeitgeist-Frage

Für die Umsetzung wurden einige Veränderungen vorgenommen. So hat man bei der Besetzung auf einen diversen Cast gesetzt, was vielen Figuren zu Gute kommt und nicht krampfhaft aufgesetzt wirkt, um lediglich modernen Richtlinien zu entsprechen. Im Vorfeld gab es (wie eigentlich immer…) Mäkeleien, da Fan-Liebling Death nicht als weißhäutige Gothic repräsentiert wird, sondern von der schwarzen Britin Kirby Howell-Baptiste („Cruella“, „Silent Night“, „Killing Eve“) Leben eingehaucht bekommt. Wer sich daran stört, sollte sich erst einmal ein Bild machen, denn sie spielt großartig. Sie verleiht dem Tod auf einfühlsame Art und Weise Charakter und harmoniert sehr gut mit ihrem Bruder Dream. Dream selbst wird überaus charismatisch vom Film-, TV- und Theater-Darsteller Tom Sturridge („Radio Rock Revolution“, „Die Kunst des toten Mannes“) gespielt. Als stylishe Mischung aus Eric Draven, Edward Cullen und Edward mit den Scherenhänden kommt er seinem geheimnisvollen Comic-Vorbild schon sehr nah.

Weitestgehend verzichtet hat man aber auf das Zusammentreffen mit namhaften DC-Charakteren. Gibt es in den Comics noch Auftritte vom Martian Manhunter, Mister Miracle oder Scarecrow, sollte die Serie auf eigenen Beinen stehen. Dreams Rabe Matthew erwähnt zwar, dass er zuvor eine menschliche Gestalt hatte, worauf aber nicht näher eingegangen wird. Sein Charakter geht zurück auf Matthew Joseph Cable, der seinen ersten Auftritt in „Swamp Thing“ #1 aus dem Jahr 1972 hatte, geschrieben von Len Wein und gezeichnet von Bernie Wrightson. Lediglich Constantine spielt eine kleine aber nicht unwichtige Rolle. Jedoch wurde der „Hellblazer“ John durch seine eigentliche Vorfahrin ersetzt. Ex-„Doctor Who“-Companion Jenna Coleman spielt eine gewisse Lady Johanna Constantine bereits in einer Rückblende im 18. Jahrhundert, tritt als Nachfahrin mit gleichem Namen aber auch in der Gegenwart auf. So konnte man einerseits dauerhaft auf Coleman bauen, was bei einem Darsteller-Wechsel nur für Verwirrung gesorgt hätte, dem Cast noch eine weitere starke Frauenrolle hinzufügen, als auch einer Kollision mit einer geplanten neuen Serie um Okkult-Ermittler „Constantine“ aus dem Weg gehen. „The Sandman“ soll nämlich weder mit den DC-Filmen in Verbindung gebracht werden, noch mit den langsam auslaufenden Serien aus dem Arrowverse („Arrow“, „Supergirl“, „Legends of Tomorrow“, „The Flash“ & Co.). Vielleicht bekommt man ja langsam mal etwas Ordnung in das DC/WARNER-Chaos, wo der neue CEO von WARNER BROS. DISCOVERY David Zaslav gerade so großzügig den Rotstift ansetzt (und den abgedrehten „Batgirl“ gleich komplett gestrichen hat), um endlich eine gerade Linie zu finden. Jedenfalls wurde Michael Keatons Batman bereits aus der (wieder einmal verschobenen) „Aquaman“-Fortsetzung gestrichen und durch Ben Affleck ersetzt, was aufhorchen lässt. Sollten uns eventuell doch irgendwann noch „Justice League“-Fortsetzungen aus der Feder von Zack Snyder ins Haus stehen? Abwarten… aber es deutet Einiges darauf hin, dass man diese Timeline noch nicht gänzlich abgeschrieben hat.

Fazit

„The Sandman“ ist auf vielen Ebenen außergewöhnlich. Erzählerisch bestreitet die unkonventionelle Serie neue Wege, was durch die überraschend nachgeschobene Bonus-Episode nur noch mal unterstrichen wird. Weitestgehend wird der komplexen Vorlage treugeblieben. Änderungen sind zeitgemäßer Natur, was nicht negativ ins Gewicht fällt. Immerhin startete die Comic-Reihe bereits 1989. Zu einer Zeit, wo ein solches Format sämtliche Sehgewohnheiten gesprengt hätte und alleine auf technischer Ebene niemals hätte realisieret werden können. NETFLIX, WARNER und DC lassen es nicht nur optisch krachen, was dem überzeugenden Dark-Fantasy-Märchen ein hoffentlich langes Leben beschert. Man wird ja noch träumen dürfen… oder, NETFLIX?

Wertung: 9

Fotos: © Netflix

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